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Die Politik der Mitte und der Rechtsstaat

Schwerpunktthema: Gastbeitrag

Gastbeitrag des Bundesjustizministers Dr. Marco Buschmann für ZEIT Online

Interviews und Gastbeiträge
Zeit Online

[gekürzte Fassung des Beitrags für The Centre Must Hold: Why Centrism is the Answer to Extremism and Polarisation, hrsg. v. Yair Zivan, Publikationsdatum: 27. Juni 2024]

I.
Eine der ältesten Anregungen zu einer Politik der Mitte findet sich bei Aristoteles. Tugend, so lehrte der antike Philosoph, sei die Mitte zwischen zwei Extremen. Überträgt man den Gedanken auf die Politik, so bildet die Mitte den Punkt, der von beiden extremen Flügeln – links wie rechts – zugleich am weitesten entfernt ist. Eine Politik der Mitte darf sich allerdings nicht von diesen Extremen definieren lassen, sondern muss ihren Abstand konzeptionell aus sich selbst heraus positiv begründen können.

Wie man diesen Abstand konzeptionell hält, zeigt sich schnell, wenn man extreme Positionen der Linken wie der Rechten in der Politik betrachtet: Beide definieren den Menschen als Teil einer Gruppe – sei es Rasse, Klasse oder Nation. Beide betrachten die Welt als ein Schlachtfeld, auf dem diese Gruppen gegeneinander kämpfen. Eine Politik der Mitte setzt dagegen auf den Eigenwert eines jeden einzelnen Menschen und statt auf Kampf setzt sie auf freiwillige Kooperation.

Aus diesen Fixsternen einer Politik der Mitte – Eigenwert des individuellen Menschen und Kooperation statt Kampf – resultiert ein klares Verständnis der großen Begriffe der Politik: Um den einzelnen Menschen vor Tyrannei zu bewahren, macht die Demokratie ihn zum Teilhaber der Macht im Staat. Um ihn auch vor einer Tyrannei der Mehrheit zu bewahren, räumt die Politik der Mitte dem einzelnen Menschen eine Sphäre des rechtlichen Schutzes sogar gegen eine demokratische Mehrheit ein. So öffnet sich ein Raum individueller Freiheit und der freiwilligen Kooperation – auf Märkten, in Kultur und Zivilgesellschaft. So entstehen auch die Voraussetzungen dafür, dass im demokratischen Wettbewerb aus der Meinung einer Minderheit eine neue Mehrheit werden kann.

Das operative Konzept dazu nennen wir Grund- oder Menschenrechte. Die Verbindung von Demokratie und Grundrechten nennen wir heute liberale Demokratie. Sie ist das verfassungsrechtliche Leitbild der politischen Mitte. Sie ist ohne das Rechtsstaatsprinzip nicht denkbar. Mitte und Rechtsstaat sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

II.
Trennt man Grundrechte von der Demokratie und versteht letztere nicht als Teilhabe des Einzelnen an der Macht, sondern als die absolute Macht der absoluten Mehrheit, entsteht etwas, das der Journalist Fareed Zakaria in kritischer Distanz kurz nach der Jahrtausendwende einmal „illiberale Demokratie“ genannt hat. Sie wird zunehmend das Leitbild der politischen Ränder. Für die politische Rechte hat Viktor Orbán ausdrücklich bekannt, eine „illiberale Demokratie“ errichten zu wollen – eine Form der Herrschaft, die der Mehrheit alles erlaubt und in der der Einzelne letztlich kaum etwas zählt. Deshalb wendet sich illiberale Demokratie auch immer gegen das Prinzip des Rechtsstaates. Denn das Recht setzt selbst der Mehrheit Grenzen zum Schutze des Individuums. Will aber die Mehrheit unbeschränkt herrschen, betrachtet sie das Recht als Hindernis.

Dass eine bloße Herrschaft der Mehrheit sehr gefährlich sein kann, hat bereits der französische Historiker Alexis de Tocqueville herausgearbeitet. Er bereiste zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts die USA. Sein Ziel war es, die Praxis der demokratischen Verfassung der USA und ihre Wirkung auf die Gesellschaft zu studieren. Seine Beobachtungen und Analysen legte er in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ dar. Es ist ein Klassiker der politischen Literatur.

In diesem Werk gibt es ein Kapitel, dessen Titel bis heute eine ikonische Formulierung ist: die „Tyrannei der Mehrheit“. Tocqueville erklärt sie so:
„Sobald ich daher sehe, dass man das Recht und die Möglichkeit, schlechthin alles zu tun, irgendeiner Macht zugesteht, man mag sie nun Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie nennen, man mag sie in einer Monarchie oder einer Republik ausüben, sobald ich es sehe, sage ich: Das ist der Keim zur Tyrannei [...].“

Tocqueville unterstrich, dass es Grenzen für jede Form der Ausübung von Herrschaft geben müsse. Diese Grenzen entstammten dem Prinzip der Gerechtigkeit. Kein Herrscher und kein Volk dürften dagegen verstoßen.
Tocqueville gab auch eine Empfehlung dazu ab, wie man das Prinzip der Gerechtigkeit unter Bedingungen des Mehrheitsprinzips bewahren könne. Er empfahl den „Juristengeist als Gegengewicht“.

Keineswegs war er der Meinung, dass Juristen die besseren oder gar demokratischeren Menschen seien. Aber „sie dienen unter den Bürgern als Schiedsrichter, und die Gewohnheit, die blinden Leidenschaften der Parteien auf ein Ziel hinzuführen, löst in ihnen eine gewisse Verachtung für das Urteil der Menge aus.“ Sprich: Der Jurist sei gewissermaßen dazu erzogen, sich von Mehrheitstrends frei zu machen und sich auf das zu konzentrieren, was das Recht verlange.

III.
Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass im gewaltenteiligen Verhältnis von demokratischer Mehrheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die von dieser Mehrheit beschlossene Gesetze wieder aufheben kann, Spannungen aufkommen können. Mehr noch: Dieses Verhältnis ist auf Reibung angelegt. Gerade aus dieser Reibung speist sich die Energie, um eine demokratisch legitimierte Politik zu erhalten, die im Einklang insbesondere mit den Grundrechten des individuellen Menschen steht und dadurch erst freiwillige Kooperation statt Kampf ermöglicht. Diese Reibung ist auch Treibstoff der Verfassungsrechtswissenschaft und der Verfassungspolitik. In den USA gibt es derzeit etwa im Zusammenhang mit dem Recht des Schwangerschaftsabbruches eine hitzige Auseinandersetzung darüber, wie die geschriebene Verfassung zu interpretieren sei. Originalisten meinen, die Texte sagten nur das aus, was die Verfassungsväter im 18. Jahrhundert vor Augen gehabt hätten. Freiheitsrechte, die sich nicht in den Verfassungszusätzen finden, etwa ein allgemeines Recht auf Privatheit, gebe es nicht. Wer den Text evolutionär nach Wertungen zu einer völlig veränderten Lebenswelt befrage, tue ihm Gewalt an und ignoriere, dass man ihn auch hätte ändern können. In Deutschland wird eine vergleichbare Debatte etwas ruhiger unter dem Stichwort Verfassungswandel durch Auslegung diskutiert.
Es ist dabei kein Zufall, dass insbesondere Konservative eine eher originalistische Haltung einnehmen. Aus dieser Haltung resultiert ein im Laufe der Zeit abnehmender Einfluss der Verfassungsgerichtsbarkeit. Denn die Änderung geschriebener Verfassungen sind meist sehr aufwändig. Das ist häufig auch gewollt, damit ihre Garantien nicht von einfachen politischen Mehrheiten geändert werden können.

Würden den Richtern bei der Auslegung aber originalistische Grenzen gesetzt, müssten sie entweder an einer Welt festhalten, die es so nicht mehr gibt, oder wären immer häufiger gezwungen, zu dem Auslegungsergebnis zu kommen, dass die Verfassung keine Aussage mehr treffe. Die Gewaltenteilung würde sich dann zu Gunsten der Parlamentsmehrheit verschieben. Die Rechte des einzelnen Menschen würden immer stärker in die Gefahr kommen, unter die Räder der Mehrheitsmeinung zu geraten.

Inhaltliche Fragen können in Personalfragen umschlagen. Daher muss Justiz unabhängig sein. Treffen Richter Entscheidungen, die nicht den Beifall der Mehrheit finden, darf es nicht sein, dass man sie auswechselt. Trotzdem gibt es immer wieder – und in den letzten Jahren zunehmend – Versuche, die Unabhängigkeit der Verfassungsgerichte zu unterlaufen. Dies kann subtil durch Verfahrensregelungen geschehen, Regelungen zur Amtszeit der Richter, Beschränkung ihrer Befugnisse oder die Schaffung weiterer, von der aktuellen Mehrheit gewählter Richter. Häufig braucht es dafür noch nicht einmal eine Verfassungsänderung.

Perspektivisch wirft dies die Frage auf, ob nicht gerade die Verfassungsgerichtsbarkeit als „Hüterin der Grundrechte“ resilienter und rechtlich besser abgesichert werden muss. Denn wenn eine Mehrheit sich daranmacht, die Unabhängigkeit der Gerichte zu beschneiden, dann ist das ein starkes Indiz für ein Land auf dem Weg zur „Tyrannei der Mehrheit“.

Umgekehrt dürfen sich Richter nicht über die Auslegung der Verfassung hinausbegeben. Ansonsten würden auch sie es auf einen Verfassungskonflikt anlegen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht betont, dass es weite Ermessensspielräume des Gesetzgebers zur Konkretisierung der Verfassung gebe und auch Einschätzungsprärogativen, die sich der richterlichen Kontrolle entziehen. Andere Verfassungsgerichte haben eine Lehre politischer Entscheidungen entwickelt, um die Grenzen der eigenen Kompetenzen zulasten des Parlaments nicht zu verletzen.

Fazit:
Politik der Mitte bedeutet Schutz des einzelnen Menschen, um einen Raum freiwilliger Kooperation zu eröffnen. Wer den einzelnen Menschen durch Grundrechte konsequent schützen möchte, darf nicht allein auf die grundrechtliche Gesinnung einer Parlamentsmehrheit vertrauen. Es muss klare verfassungsrechtliche Regeln geben, wie eine möglichst unabhängige Justiz im Konfliktfall die Grundrechte des Einzelnen auch gegen eine Mehrheit im Parlament verteidigen kann. Deshalb ist eine Politik der Mitte immer auf die Stärkung von Grundrechten und die Unabhängigkeit der Justiz angelegt.

This is an extract from The Centre Must Hold: Why Centrism is the Answer to Extremism and Polarisation, edited by Yair Zivan (Elliott & Thompson) is published in hardback on 27th June.

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