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Überbordende Bürokratie legt die Axt an die Demokratie

Schwerpunktthema: Gastbeitrag

Gastbeitrag von Dr. Marco Buschmann, Bundesminister der Justiz, zum Bürokratieabbau für die Frankfurter Allgemeine Zeitung

Gastbeitrag

zu sehen ist Dr. Marco Buschmann, Bundesminister der Justiz bei einem Interview
Quelle: BMJ/ Dominik Butzmann

Spricht man mit Unternehmerinnen und Unternehmen in diesem Land, klagen sie über kaum etwas lauter als über das Dickicht der Bürokratie. Sie tun es mit Recht: Zahlreiche Unternehmen leiden unter einem regelrechten Bürokratie-Burn-Out. Sie sind von Berichtspflichten, statistischen Erhebungen und millimetergenauen Regelungsvorgaben so erschöpft, dass sie sich immer weniger auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können. Dem müssen wir entgegentreten – in Deutschland, und erst Recht in der Europäischer Union.

Bürokratie fällt dabei nicht vom Himmel. Sie ist ein typisches Symptom der Massengesellschaft und ihrer Großorganisationen. Sie kann vor Übereilung, Fehlerhaftigkeit und Willkür schützen. Sie kann aber auch ein „Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber) mit toxischer Wirkung für die Innovationskraft unseres Gemeinwesens errichten. Die Dosis macht das Gift. In Phasen großer Stabilität und Planbarkeit kann maßvolle Bürokratie einen Beitrag zur Senkung gesellschaftlicher Transaktionskosten und zum sozialen Frieden leisten. In Zeiten, die schnelle Anpassung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verlangen, ist die Schwelle zum Gift dagegen schnell überschritten.

Wir leben in einer Zeit, die sich durch das Gegenteil von Stabilität und Planbarkeit auszeichnet. Die Zeitenwende in der Ära eines Systemwettbewerbs zwischen liberaler Demokratie und Autoritarismus verlangt nach multidimensionaler Anpassung: Wirtschaftliche Strukturschwächen müssen überwunden, das Bildungssystem gestärkt, der Arbeitsmarkt offener für qualifizierte Einwanderung gestaltet, der Staat digitalisiert, die sozialen Sicherungssysteme finanziell tragfähig gemacht, das Energiesystem umgebaut und die Sicherheitsarchitektur der neuen Weltlage angepasst werden. Innovationskraft und dynamische Anpassungsfähigkeit sind gefragt wie nie. Deutschland braucht mehr Tempo und Dynamik. Dem wirkt Bürokratie sklerotisch entgegen. Wer darüber spricht, unser Land stark machen zu wollen, der muss über den Abbau von Bürokratie sprechen.

Bürokratie ist ein wirtschaftlicher Standortfaktor. Sie ist aber auch staatsrechtlich ein überaus relevantes Phänomen. Denn der Staat hat sich mittlerweile selbst so sehr bürokratisch gefesselt, dass er mitunter gar nicht mehr akut handlungsfähig erscheint – selbst dann, wenn es die politischen Entscheidungsträger wollen. Das gilt erst recht in einem staatlichen Mehrebenensystem (Bund, Länder und Gemeinden), das selbst wiederum in den Staatenverbund der EU eingebunden ist. Mitunter gelingen hier glänzende Einzelleistungen wie die Genehmigung und Errichtung neuer Flüssiggas-Terminals. Dazu waren Sondergesetzgebung in kurzer Frist und ebenenübergreifende Kooperation nötig, die auch gelangen. Doch in zentralen Handlungsfeldern wie der Migrationspolitik beobachten die Bürger einen Prozess bürokratischer Verantwortungsdiffusion, der ihrem Anspruch auf dynamische Anpassungsleistungen nicht nachkommt. Die jüngste Umfrage des Deutschen Beamtenbundes, die zum Ergebnis hatte, dass mehr als zwei Drittel der Bürger den Eindruck haben, der Staat sei mit seinen Aufgaben überfordert, ist ein Alarmsignal. Da Bürokratie jedoch strukturell wirkt, bringt die demokratische Auswechselung einzelner Entscheidungsträger auf einzelnen Ebenen häufig nicht das, was sich die Wähler davon versprechen. So kommt es zu Frust und die Anfälligkeit für demokratieverächtlichen Populismus wächst. Denn entsteht bei den Bürgerinnen und Bürgern der Eindruck, ein demokratischer Regierungswechsel bringe keine Veränderung, weil auch eine neue Regierung sofort in die Fesseln der Bürokratie gelegt ist, so führt das beinah zwangsläufig zu einem Verlust des Vertrauens in die Problemlösungsfähigkeit demokratischer Prozesse. Überbordende Bürokratie legt die Axt an den Stamm der Demokratie.

Die Bundesregierung stellt sich dieser Herausforderung. Dazu ist der erste Schritt gemacht: Mit den Beschlüssen der Kabinettsklausur von Meseberg, insbesondere mit dem Entwurf für das Wachstumschancengesetz und den Eckpunkten für ein Bürokratieentlastungsgesetz, steht eine deutliche Entlastung beim sogenannten Erfüllungsaufwand an. Das ist die Währung, mit der Fachleute bürokratische Lasten für die Wirtschaft messen. Denn er zeigt, wie viel es Unternehmen kostet, die Vorgaben aus den Gesetzen anzuwenden. Die Beschlüsse von Meseberg führen zu einem Entlastungsvolumen von mindestens 2,3 Milliarden Euro weniger Erfüllungsaufwand. Das ist mehr als doppelt so viel wie das bisher größte Entbürokratisierungsprogramm einer Bundesregierung, das BEG III. Den „Bürokratiekostenindex“, ein Indikator, mit dem Fachleute bürokratische Lasten messen, drücken wir dadurch voraussichtlich auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen.

In Deutschland haben wir uns auf den Weg gemacht, das deutsche Recht zu entbürokratisieren. Es ist aber das kleinere Spielfeld. Denn, so zeigen es Daten der Bundesregierung, der jährliche Erfüllungsaufwand stammt durchschnittlich zu 57 Prozent aus der Umsetzung von EU-Richtlinien. Die Europäische Union ist die sprudelndste Quelle für zusätzliche Bürokratie.

Wer in Europa etwas verändern will, braucht starke Partner. Unsere französischen Freunde teilen mit uns unsere Sorgen. In seiner Rede im Mai 2023 im Elysée Palast hat der französische Präsident Emmanuel Macron eine „regulatorische Pause“ in Europa angeregt. Dies entspricht unserem nationalen Ansatz, die Wirtschaft während der Herausforderungen durch multiple Krisen nicht mit unverhältnismäßigen zusätzlichen Bürokratielasten zu beeinträchtigen. Wir werben gemeinsam dafür, in Europa das bürokratische Dickicht zu lichten. Aus unserer Sicht sollten insbesondere kleine und mittlere Unternehmen entlastet werden. Dazu wollen wir Berichtspflichten reduzieren. Das würde nicht nur einen Wachstumsschub zum Nulltarif für ganz Europa erzeugen. Sondern auch die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandortes erhöhen.

In der kommenden Woche findet die gemeinsame französisch-deutsche Regierungsklausur in Hamburg statt. Wenn Deutschland und Frankreich in Europa an einem Strang ziehen, ist vieles möglich. Die Europäische Union ist das großartigste politische Projekt, das dieser Kontinent hervorgebracht hat – sorgen wir gemeinsam dafür, dass es auch das deutlich unbürokratischste wird. Überlassen wir Europa nicht den Bürokraten und Populisten, verbünden wir uns mit den Modernisierern und Optimisten.

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