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"Vorrangig geht es darum, dass das Strafrecht immer Ultima Ratio sein muss"

Schwerpunktthema: Interview

Interview des Bundesjustizministers Dr. Marco Buschmann mit der ZEIT zum Israel-Hamas-Konflikt und Antisemitismus sowie zu geplanten Änderungen im Strafrecht.

Meldung

Zu sehen ist Bundesminister Dr. Marco Buschmann beim Sprechen.
Quelle: BMJ / Dominik Butzmann

Das Interview wurde vor der Veröffentlichung auf dieser Seite redaktionell gekürzt.

ZEIT: Herr Minister, ist Antisemitismus eine Straftat?

Dr. Marco Buschmann: Antisemitismus ist eine verwerfliche Geisteshaltung. Das Strafrecht setzt nicht bei verwerflichen Gedanken an, sondern bei verwerflichen Taten. Aber diese Geisteshaltung inspiriert strafrechtlich relevantes Verhalten. Sie führt etwa zu Beleidigungen, zu Sachbeschädigungen, zu Propaganda für terroristische Vereinigungen oder schlimmstenfalls zu Körperverletzungen und sogar Tötungsdelikten. Dann ist das Strafrecht gefragt.

Ist es eine Straftat, Israel das Existenzrecht abzusprechen?

Es kommt immer auf den Kontext an. Wenn jemand nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober Terroranschläge öffentlich bejubelt, dann ist das höchstwahrscheinlich eine strafbare Billigung von Straftaten. Das werden am Ende Gerichte entscheiden. Für mich ist aber auch klar: Sollte sich in der Gerichtspraxis herausstellen, dass es Strafbarkeitslücken gibt, muss man nüchtern prüfen, wie man sie schließt. Derzeit gehe ich aber davon aus, dass wir diese Phänomene mit den bestehenden Strafnormen in den Griff bekommen können.

Wie erleben Sie persönlich diese Wochen, also die Davidsterne auf Haustüren in Berlin? Die Parolen auf den Demonstrationen, zuletzt in Essen? Und die wirklich heftigen Debatten im Netz?

Ich finde es absolut entsetzlich. Wir alle, auch ich, hatten ja gehofft, dass es einen Lernfortschritt gibt, dass Antisemitismus und eine zivilisierte, tolerante Gesellschaft einfach nicht zusammenpassen. Jetzt sehen wir, dass das nicht so ist. Mittlerweile muss wirklich auch der Dümmste gemerkt haben, dass der Antisemitismus in Deutschland hochaktiv ist - in migrantischen Milieus, in links- und rechtsextremistischen Milieus, aber auch in der Mitte der traditionellen bürgerlichen Gesellschaft.

Wurde der migrantische Antisemitismus in Deutschland zu lange ignoriert?

Ja. Die Hoffnung, dass sich inakzeptable Verhaltensweisen wie der Antisemitismus quasi von selbst abschleifen, wenn alle Menschen nur die Vorteile der offenen und freien Gesellschaft kennenlernen - diese Hoffnung war zu naiv. Antisemitische Vorurteile werden offenbar erhalten, kultiviert und erneuert. Und das geht nicht. Das dürfen wir nicht akzeptieren und müssen handeln. Das tun wir beispielsweise beim Staatsangehörigkeitsrecht. Hier geht es um die Frage: Wen wollen wir einbürgern? Da haben wir gerade Regelungsvorschläge verabschiedet, die mir persönlich sehr wichtig sind. Das eine ist die volle Unterhaltsfähigkeit, das heißt, wir bürgern nur Menschen ein, die sich selbst und ihre Familie von ihrer Arbeit ernähren können. Und das Zweite ist: Wir schreiben sehr viel strenger als bislang vor, was die Einwanderungsbehörden tun müssen, um in Erfahrung zu bringen, ob jemand schon einmal antisemitisch auffällig geworden ist. Und wenn das der Fall ist, darf er nicht eingebürgert werden. Wir wollen nicht, dass Antisemiten deutsche Staatsbürger werden.

Nun sind allerdings viele derer, die mit solchen Parolen auf die Straße gehen, längst deutsche Staatsbürger. Es wird daher gefordert, etwa von der CSU, Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit bei einer Verurteilung wegen antisemitischer Straftaten den deutschen Pass zu entziehen. Was halten Sie davon?

Wenn sich deutsche Staatsbürger antisemitisch verhalten, müssen wir dem konsequent entgegentreten. Das Strafrecht hält dafür Mittel bereit. Die Staatsangehörigkeit kann unter bestimmten Umständen aberkannt werden. Wenn jemand dadurch staatenlos würde, ist der Spielraum des Grundgesetzes allerdings überaus eng. Aber ich finde, das Phänomen ist so schlimm, dass man die rechtlichen Möglichkeiten konsequent nutzen sollte.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat kürzlich ein Verbot der Hamas in Deutschland ausgesprochen und im Zuge dessen auch die Verwendung von bestimmten Logos und Slogans untersagt, darunter die Parole „From the River to the Sea“. Ist das in Ihren Augen ein zulässiger Eingriff in die Meinungsfreiheit?

Buschmann: Natürlich muss demonstriert werden können. Es muss auch möglich sein, irritierende Thesen zu vertreten. Aber machen wir uns einmal klar, was Hamas und Samidoun mit diesem Slogan meinen. From the river to sea meint vom Jordan bis zum Mittelmeer. Und der Ausdruck Palestine will be free meint, die Hoheit des Staates Israels dort zu beseitigen. Schauen wir uns auf der Landkarte an, was das bedeutet: Es wird in diesem Zusammenhang die Vernichtung des Staates Israel propagiert. Und deshalb glaube ich, dass diese Entscheidung richtig ist.

Zahlreiche pro-palästinensische Demonstrationen sind im Vorfeld von der Polizei untersagt worden. Das kann Sie als liberalen Rechtspolitiker doch nicht glücklich machen, schließlich ist die Versammlungsfreiheit ein Grundrecht. Müssen wir diese Demonstrationen, auch wenn sie Israel kritisieren, nicht einfach erdulden?

Jeder hat das Recht zu trauern - um Opfer der einen, der anderen oder beider Seiten. Niemand hat etwas dagegen, wenn menschliche Anteilnahme zum Ausdruck gebracht wird. Natürlich ist das von der Demonstrationsfreiheit gedeckt, ebenso die Forderung nach einer friedlichen Lösung in Nahost. Aber das Grundgesetz hat eine eindeutige Sprache: Die Begehung von Straftaten ist nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckt. Propaganda für eine Terrororganisation wie die Hamas zu machen, ist so eine Straftat, ebenso, Gewalt gegen Menschen in Israel zu verherrlichen.

Der Bundespräsident hat kürzlich die deutschen Araber aufgefordert, sich von der Hamas zu distanzieren. Nicht etwa die Verbände, sondern jede Einzelne. Sind Sie glücklich mit dem Statement?

Das ist ungewöhnlich, aber wir sind auch in einer ungewöhnlichen Phase. Natürlich sollte nicht der Eindruck entstehen, jeder Mensch mit arabischen Wurzeln und muslimischem Glauben sei schon ein halber Antisemit. Ich habe den Bundespräsidenten so verstanden, dass er einen Beitrag dazu leisten wollte, was in vielen Freundeskreisen längst geschieht: Dass alle Menschen – egal woher ihre Eltern kommen – zum Ausdruck bringen: Wir wollen mit der Hamas nichts zu tun haben! In meinem Wahlkreis, in Gelsenkirchen, gibt es viele Menschen mit türkischen Wurzeln, aber auch arabischstämmige Zuwanderer, die mir sagen: Ich will mir hier eine Existenz aufbauen und eine gute Zukunft für meine Familie. Mit diesen Terroristen von der Hamas will ich nichts zu tun haben.

Können Sie verstehen, dass Deutsche, deren Großeltern nicht zur Tätergeneration gehören, sondern aus Rumänien, Ghana oder der Türkei stammen, ein anderes Verhältnis zur deutschen Schuld und zur deutschen Verantwortung gegenüber Israel haben?

Nein. Es geht hier ja nicht um eine Erbsünde, die wir von unseren Vorfahren über die Blutlinie geerbt haben. Es geht darum, uns der Verantwortung für den Holocaust zu stellen, die mit diesem Land verbunden ist und aus der wir lernen müssen. Deutschland ist historisches Beispiel dafür, dass bestimmte Einstellungen in der staatlich organisierten, systematischen Vernichtung von Menschen im industriellen Maßstab enden können. Aus dieser Lernerfahrung ergibt sich eine besondere Verantwortung für die Bundesrepublik: dafür zu sorgen, dass so etwas bei uns nie wieder geschehen kann und dass es möglichst nirgendwo wieder geschehen kann. Das ist ein normativer Anspruch: Deutscher sein soll bedeuten, aus der Geschichte gelernt zu haben. Wer der Meinung ist, dass ihn diese Lernerfahrung nichts angeht, der muss ja auch kein Deutscher werden.

Wenn man im Moment Instagram oder Tiktok öffnet, kommt einem nicht nur viel antisemitischer Schmutz entgegen, sondern auch ehrlich empfundener Schmerz einer jungen Generation, die an den Zuständen im Gaza-Streifen verzweifelt. Wie kann man verhindern, dass sich gerade die Kids mit Migrationshintergrund aus der Mehrheitsgesellschaft verabschieden?

Es soll niemandem ausgetrieben werden, Schmerz zu empfinden, wenn er verletzte oder tote Menschen sieht, egal ob in Gaza oder in Israel. Niemand soll seine Empathie und sein Mitgefühl verlieren. Was aber auch nicht sein darf: Dass man die Rolle von Täter und Opfer verwechselt – oder gar vorsätzlich umkehrt.

Herr Minister, wir haben jetzt viel über eine mögliche Verschärfung des Strafrechts gesprochen. Dabei hatten Sie sich zu Beginn der Legislaturperiode vorgenommen, das Strafrecht zu durchforsten und zu liberalisieren. Warum?

Uns treiben dabei drei Motive. Zum einen gibt es im Strafgesetzbuch Strafnormen, die einfach nicht mehr mit den gelebten Werten unserer Gesellschaft übereinstimmen. Zum Beispiel bei der Information über Schwangerschaftsabbrüche im Netz. Der alte Paragraph 219a hat verhindert, dass Ärzte neutral im Internet über Schwangerschaftsabbrüche informieren können. Das ist gerade aus Sicht einer jungen Generation, die sich tagtäglich über alles im Internet informiert, natürlich grotesk. Deshalb haben wir den Paragraphen 219a schon abgeschafft. Es gibt aber weitere Beispiele. Zweites Motiv: Es gibt in Deutschland die Neigung, Gesetze zu machen – und dann nie wieder zu fragen, ob man sie noch braucht. Mein Lieblingsbeispiel ist der Missbrauch von Scheckkarten: Seit zwanzig Jahren gibt es keine Scheckkarten im Sinne dieser Norm mehr, aber die Strafbarkeit für ihren Missbrauch gibt es immer noch. Das entschlacken wir. Und drittens gibt es noch Reste nationalsozialistischer Sprache und nationalsozialistischen Gedankenguts im Strafgesetzbuch. Das betrifft insbesondere den Mord-Paragraphen in seiner jetzigen Form. Davon wollen wir uns schnell und gründlich verabschieden, auch wenn morden selbstverständlich in gleichem Umfang strafbar bleibt.

Geht es dabei um eine Liberalisierung der Kriminalpolitik oder vor allem darum, völlig überlastete Staatsanwaltschaften und Gerichte zu entlasten?

Das schließt sich ja nicht aus. Vorrangig geht es darum, dass das Strafrecht immer Ultima Ratio sein muss. Das Strafrecht ist das schärfste Schwert des Staates. Wer Verdächtiger eines Strafverfahrens ist, muss enorme Beeinträchtigungen seiner bürgerlichen Freiheiten hinnehmen. Das ist grundsätzlich auch richtig, weil wir Verbrechen aufklären müssen. Aber man muss sich auch die Frage stellen: Braucht man das überall noch? Und wenn die Antwort „nein“ lautet und dass dann dazu führt, dass die Justiz entlastet wird, dann ist das doch gut.

Wo wollen Sie ansetzen?

Wir wollen die sogenannte Beförderungserschleichung oder populär gesagt: das Fahren ohne Fahrschein, nicht mehr unter Strafe stellen, sondern zu einer Ordnungswidrigkeit machen. Das signalisiert immer noch: Es ist nicht in Ordnung, wenn du eine Leistung in Anspruch nimmst, für die alle anständigen Menschen bezahlen. Fahren ohne Fahrschein wird also auch weiter sanktioniert, aber eben in einem standardisierten, weniger personalintensiven Verfahren.

Sie wollen auch die sogenannte Fahrerflucht entkriminalisieren. Warum?

Wir wollen sie nicht entkriminalisieren, sondern für die Bürger Rechtsklarheit schaffen. Wir wollen für anständige Menschen, die auch für die Schäden, die sie verursacht haben, einstehen wollen, mit einer digitalen Meldestelle einen moderneren Weg finden, als manchmal sehr lange Zeit auf die Polizei zu warten zu müssen. Wer jemanden auf dem Parkplatz aus Unachtsamkeit touchiert, einen Kratzer im Lack verursacht oder aus Versehen einen Spiegel abfährt...

... ist Ihnen das auch schon mal passiert?

Das ist mir auch schon passiert, und da habe ich natürlich sofort bei der zuständigen Polizeidienststelle angerufen. Dann habe ich natürlich gewartet. Das war für mich damals kein Problem. Aber stellen Sie sich jemanden vor, der zum Bewerbungsgespräch für seinen Traum-Job unterwegs ist. Er ist nervös. Die Polizei braucht vielleicht etwas länger, um vor Ort einzutreffen, weil viel zu tun ist. Dieser Mensch kommt mehr und mehr in Bedrängnis, entweder seine Rechtspflicht zu warten zu verletzen oder seinen Traumjob nicht zu bekommen. Hier möchte ich eine digitale Meldestelle einrichten, bei der jeder nach einem Unfall ohne Personenschaden seine Daten und Fotos vom Vorgang hochladen kann und danach nicht mehr unter Androhung von Kriminalstrafe vor Ort warten muss. Damit wäre der Schutzzweck der Norm gewahrt: es geht ja darum, sicherzustellen, dass rechtssicher dokumentiert ist, wer an dem Unfall beteiligt war, damit der Geschädigte sich seinen Schaden ersetzen lassen kann, sofern der Unfallbeteiligte hierzu verpflichtet ist.

Sie wollen auch die Mindeststrafe für den Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie herabsetzen. Wie wollen Sie verhindern, dass das als Signal gelesen wird: Kinderpornografie ist doch nicht so schlimm?

Kinderpornografie ist etwas Entsetzliches, es ist eine der widerlichsten Straftaten, die wir uns vorstellen können. Sie soll und muss weiter schwer bestraft werden können. Daher soll es auch nach der von uns vorgeschlagenen Gesetzesänderung bei den 2021 verschärften Höchststrafen blieben. In der Praxis hat sich aber herausgestellt, dass die vor zwei Jahren beschlossene Anhebung der Mindeststrafe zu teils fatalen Folgen führt.

Inwiefern?

Der Straftatbestand ist sehr schnell erfüllt. Stellen sie sich vor, eine Bekannte schickt ihnen einen Screenshot ihres Facebook-Profils. Das ist offensichtlich gehackt worden. Darauf befindet sich nun kinderpornografisches Material. Die Senderin will sie warnen. Sie sind bestürzt und wollen dieses Material sofort aus dem Verkehr ziehen. Wenn Sie den Screeshot nicht sofort löschen, machen Sie sich strafbar. Und Ihre Bekannte, die Sie bloß warnen wollte, ebenfalls. Oder wenn Eltern solche Bilder auf dem Handy ihrer Kinder finden, einen Screenshot machen und andere Eltern fragen: haben eure Kinder auch so was auf dem Smartphone? – schon haben sie sich strafbar gemacht. Und die Mindeststrafe ist ein Jahr Gefängnis! Da stimmt etwas nicht. Wir wollen den Staatsanwaltschaften und Gerichten in solchen Fällen die Möglichkeit zurückgeben, solche Verfahren wie vor der Gesetzesänderung 2021, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen, einzustellen. Wenn man zum Beispiel feststellt, dass jemand in Wahrheit die Verbreitung von Kinderpornografie verhindern wollte, dann sollen die Staatsanwaltschaften die Möglichkeit haben, das Verfahren einzustellen. Das geht nach den Regeln des Strafprozessrechts aber nur, wenn wir die Mindeststrafe senken. Alle Fachleute einschließlich aller Justizminister der Bundesländer sind sich einig, dass diese Änderung dringend nötig ist.

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