Rückgang der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten: Forschungsbericht an das Bundesjustizministerium übergeben
Schwerpunktthema: Forschung
Die Zahlen der neu eingegangenen Verfahren erster Instanz bei Amts- und Landgerichten sind seit Jahren rückläufig. Von 2005 bis 2019 sind die Neuzugänge bei den Amtsgerichten um etwa 36 % und bei den Landgerichten um rund 21 % zurückgegangen. Seitdem setzt sich der Trend weiter fort.
Pressemitteilung Nr. 27/2023
Zur Erforschung der Ursachen für diese Entwicklung hatte das Bundesministerium der Justiz im September 2020 ein umfangreiches Forschungsvorhaben in Auftrag geben. Das beauftragte Forschungskonsortium unter Führung der InterVal GmbH hat heute seinen Abschlussbericht an die Staatssekretärin des Bundesjustizministeriums Dr. Angelika Schlunck übergeben.
Staatssekretärin Dr. Angelika Schlunck erklärt dazu:
„Der Forschungsbericht liefert uns wertvolle Erkenntnisse zum Zustand und zur Entwicklung der Ziviljustiz in den letzten beiden Jahrzehnten. Die Ergebnisse zeigen, dass weniger vor den Zivilgerichten geklagt wird. Und der Bericht zeigt zugleich auf, dass die Justiz eine wichtige Akteurin bei der Bewältigung privatrechtlicher Konflikte bleibt. Um zu gewährleisten, dass die Justiz ihrer Funktion gerecht bleibt, muss sie mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt halten. Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen, die Rechtsschutz vor den Zivilgerichten suchen, müssen dort ein zeitgemäßes Angebot erhalten, um zügig und effizient zu ihrem Recht zu kommen. Der Digitalisierung kommt dabei - dies bestätigt auch der Bericht - eine Schlüsselrolle zu.“
Im Rahmen des Forschungsvorhabens wurde die Entwicklung der Eingangszahlen statistisch näher untersucht. Um die Ursachen des Rückgangs gründlich zu beleuchten, wurden neben der Bevölkerung und Verbänden betroffener Gruppen auch Unternehmen und Unternehmensverbände sowie Anwaltschaft und Richterschaft befragt. Außerdem hat das Forschungsteam Gerichtsakten ausgewertet und ergänzende Daten bei Rechtsschutzversicherern und Schlichtungsstellen erhoben.
Der Abschlussbericht benennt als wesentliche Gründe für den zu beobachtenden Rückgang:
Geschäftsaktivitäten und private Kontakte sind komplexer und schneller geworden. Damit ist das Interesse an vorbeugenden und konsensualen Konfliktlösungen (z.B. durch AGB-Gestaltung, Vorkasse, unternehmensinternes Beschwerdemanagement) gestiegen.
Prozesse werden insbesondere von Privatpersonen häufig als psychisch belastend, zeitaufwendig und unwirtschaftlich wahrgenommen. Deshalb werden zunehmend die Angebote von Dienstleistern (z.B. Legal Tech-Anbieter) genutzt.
Der Beratungspraxis kommt eine wichtige Filterfunktion zu. Anwälte raten häufiger als früher von einem gerichtlichen Vorgehen ab. Auch Rechtsschutzversicherungen schränken ihre Deckungszusagen ein. Der Gang zu Gericht wird so zunehmend zur ultima ratio.
Einzelne justizorganisatorische Faktoren schmälern die Attraktivität des Zivilprozesses; dazu gehören etwa die im Vergleich zur Anwaltschaft oftmals geringere Spezialisierung, die schleppende Digitalisierung und der häufige Richterwechsel.
Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse formuliert der Abschlussbericht rechtspolitische Empfehlungen, unter anderem zur Ausstattung der Gerichte, zu effizienteren digitalen Abläufen, zur richterlichen Spezialisierung oder zu Online-Verfahren bei Kleinforderungen. Das Bundesministerium der Justiz wird die Ergebnisse und Empfehlungen des Abschlussberichts nun prüfen und bei künftigen Initiativen berücksichtigen. Einige Vorhaben sind bereits angestoßen. So arbeitet das BMJ an der Entwicklung und Erprobung eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens, das unter anderem den digitalen Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu den Zivilgerichten erleichtern soll. Zudem hat das BMJ bereits die Ressortabstimmung für den Referentenentwurf für ein Justizstandort-Stärkungsgesetz eingeleitet. Mit diesem Gesetz soll die Attraktivität der staatlichen Ziviljustiz für die Lösung international geprägter, oftmals besonders werthaltiger Streitigkeiten gestärkt werden. Zudem unterstützt der Bund die Länder im Rahmen einer Digitalisierungsinitiative in den kommenden Jahren mit bis zu 200 Millionen Euro für digitale Projekte, um damit die Digitalisierung der Justiz voranzutreiben.
Mit der Durchführung des Forschungsvorhabens ist die InterVal GmbH beauftragt, die die Untersuchung zusammen mit Prof. Dr. Caroline Meller-Hannich und Prof. Dr. Armin Höland (beide Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) sowie der früheren Präsidentin des Kammergerichts Monika Nöhre durchführt hat. Das Forschungsvorhaben wurde von einem beratenden Beirat fachlich begleitet. Dieser setzte sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern der Rechtswissenschaft, der Landesjustizverwaltungen, der Bundesrechtsanwaltskammer, des Deutschen Anwaltvereins, des Deutschen Richterbundes, des Versicherungsombudsmannes, der Verbraucherzentrale Bundesverband, des Deutschen Mieterbundes, des Bundesverbands der Deutschen Industrie und des Deutschen Industrie- und Handelskammertages.
Den Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben finden Sie hier.
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