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„Recht und Freiheit im digitalen Raum“

Rede des Bundesministers der Justiz, Dr. Marco Buschmann MdB, am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) am 27. Oktober 2022

Rede
Dr. Marco Buschmann
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Ich freue mich sehr, heute hier – an dieser bedeutenden deutschen Zukunftsschmiede sozusagen – einige Gedanken mit Ihnen zu teilen über eines der nach wie vor wichtigsten politischen Zukunftsthemen überhaupt: „Recht und Freiheit im digitalen Raum“.

Wir haben Jahrhunderte gebraucht, Recht und Freiheit im analogen Raum einigermaßen verlässlich zu sichern. Verglichen damit sind unsere Bemühungen und Überlegungen, entsprechendes für den digitalen Raum zu schaffen, tatsächlich jung.

Und das ist, wie im analogen Raum, auch nicht nur eine Frage der tauglichen Regeln. Es ist auch eine Frage des Bewusstseins der Bürgerinnen und Bürger, der Grundrechtsträgerinnen und Grundrechtsträger.

Verstehe ich mich als solche oder solcher und erkenne ich die Eingriffe in meine Freiheiten, die im digitalen Raum möglich sind und die faktisch geschehen? Oder ist mir das egal? Wäge ich ab, ob andere Güter wie die präzise Bedienung meiner Bedürfnisse oder vermeintliche gesellschaftliche Sicherheitsgewinne wichtiger sind als meine Grundrechte? Oder erkenne ich nicht einmal, dass hier überhaupt ein Spannungsfeld vorliegt?

Oder, auch das ist eine umkämpfte Frage, die verschieden beantwortet wird: Wann und wo in der Welt der Sozialen Netzwerke sind denn Grenzen des Unfugs oder Grenzen des Zumutbaren oder Grenzen der Aggression erreicht – Grenzen, die staatliches Einschreiten fordern?

Für mich beginnen die Probleme auf einer Skala der Intensität menschlicher Reibungen nicht früh, sondern eher spät; für mich liegt die Schwelle für regulierende Eingriffe des Staates oder gar für das Strafrecht eher hoch, auch im digitalen Raum.

Wir haben es dabei natürlich auch mit Konfrontationen und Radikalisierungen zu tun, denen wir entgegentreten müssen – aber mit rechtsstaatlichen, freiheitsschonenden Mitteln!

Es geht stets darum zu beurteilen, wann Freiheit beginnt, Freiheit zu zerstören – und andersherum, wo staatliches Handeln enden muss, um individuelle Freiheit zu erhalten. Es geht um die dauernde Abwägung vor allem zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz anderer wichtiger Güter.

Dabei gilt generell: Man schützt die freiheitliche Rechtsordnung nicht, indem man Freiheitsrechte aufhebt!

Wir haben uns in dieser Bundesregierung vorgenommen, in diesen Fragen wieder konsequent dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu folgen: dass jede Einschränkung unserer Freiheit geeignet, erforderlich und angemessen mit Blick auf den angestrebten Zweck zu sein hat. Wir werden in dieser Legislaturperiode die Bürgerrechte stärken, analog und digital.

Was soll dem Staat und Privaten in der digitalen Welt und mit unseren Daten erlaubt sein zu tun? Das ist die Frage, auf die ich ein paar Antworten geben und zu der ich ein paar Vorhaben skizzieren will.

Die erste Antwort: Wir winken nicht jede Freiheitseinschränkung durch, nur weil jemand behauptet, sie bringe mehr Sicherheit.

Der neueste Fall ist ja der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Chatkontrolle, zur anlasslosen und flächendeckenden Kontrolle verschlüsselter Kommunikation. Das halte ich für einen Angriff auf die Privatsphäre von Millionen von Menschen. Es ist mit Datenschutz und auch mit EU-Grundrechten nicht vereinbar.

Begründet wird der Vorschlag mit dem Schutz von Kindern. Doch der Deutsche Kinderschutzbund sagt: Das sei ein ziemlich sinnloses, unverhältnismäßiges und nicht zielführendes Instrument. Der Deutsche Kinderverein sagt sogar, das Kindeswohl werde vorgeschoben, um dieses Instrument durchzusetzen. Nein: Chatkontrollen haben im Rechtsstaat nichts verloren. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat das soeben in einem Gutachten ganz genauso gesehen.

Um eine Chatkontrolle technisch umzusetzen, müsste die Verschlüsselung von privater Kommunikation unterbrochen werden. Wir wollen ganz im Gegenteil ein individuelles Recht auf Verschlüsselung im Netz schaffen. Wir haben uns in der Koalition den Schutz der Privatsphäre durch digitale Technik vorgenommen.

Der Vorschlag der Kommission enthält allerdings auch eine Regelung zur Löschung kinderpornographischer Inhalte. Das begrüße ich ausdrücklich. Wir müssen schon jetzt alles versuchen, damit kinderpornographische Inhalte so schnell wie möglich gelöscht werden. Wenn es hier an den Rechtsgrundlagen oder klaren Zuständigkeiten hapert, muss man hier nachbessern. Es braucht vor allem ein höheres Risiko für Besitzer von Missbrauchsdarstellungen, entdeckt zu werden. Es braucht mehr Polizisten, die im Netz auf Streife gehen. Auf diesen letzten Punkt komme ich zurück.

Wir werden uns die geltenden Sicherheitsgesetze ansehen und grundrechtssensibel eine Überwachungsgesamtrechnung erstellen: Wir wollen einen Überblick, wie weit die technischen und rechtlichen Möglichkeiten zur Überwachung reichen – und ob sie einen Sicherheitsgewinn bringen.

Bereits verabredet ist, dass wir für das staatliche Aufspielen von Schadsoftware, für den Einsatz des sogenannten „Staatstrojaners“, strengere rechtsstaatliche Regeln und Voraussetzungen schaffen.

Und wir werden jetzt die anlasslose Vorratsdatenspeicherung endlich aus dem Gesetz streichen. Wir sehen in ihr einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte: Denn er betrifft auch unbescholtene User und kann das Gefühl erzeugen – so hat es der Europäische Gerichtshof formuliert –, dass unser Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist.

Das mag ein diffuses Gefühl sein, aber wir wissen aus der Verhaltensforschung, dass so ein Gefühl das Verhalten tatsächlich beeinflusst – der „Chilling Effect“.

Eine Beklommenheit im Kommunikationsverhalten aber ist einer freien und offenen Gesellschaft, die wir doch sein wollen, unwürdig.

Gerade Ende September hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil gegen die deutsche Vorratsdatenspeicherung erneut die anlasslose und massenhafte Speicherung von Verkehrsdaten als einen schweren Eingriff in EU-Grundrechte verworfen.

Wir haben nun jetzt am Dienstag, vor zwei Tagen, einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Frage in die Ressortabstimmung gegeben.

Wir werden die Freiheit und Unbeobachtetheit der privaten Kommunikation wieder in ihr Recht setzen. Wir beenden damit einen ewig langen Streit. Seit mehr als zehn Jahren beschäftige ich mich nun mit dem Thema – immer neue Begründungen für das immer gleiche Instrument, das immer wieder vor den Gerichten scheitert, vor dem Bundesverfassungsgericht, vor dem Europäischen Gerichtshof, vor dem Oberverwaltungsgericht Münster.

In den wenigen Jahren, in denen die Vorratsdatenspeicherung genutzt wurde – seit 2017 wird sie wegen der genannten Urteile gar nicht mehr angewandt –, hat sie keinen messbaren Effekt bei der Aufklärung von Straftaten erzielt.

Wir streichen sie nun aber nicht einfach aus dem Gesetz. Sondern wir wollen den Ermittlungsbehörden statt ihrer ein neues und dieses Mal wirksames Instrument an die Hand geben: das Quick Freeze.

Telekommunikationsanbieter sollen beim konkreten Verdacht auf eine erhebliche Straftat schnell Daten sichern müssen – zunächst bei sich, ohne sie an die Ermittlungsbehörden herauszugeben.

Diese Verkehrsdaten waren übrigens 2020 in 80 Prozent der Fälle, wo sie abgefragt wurden, bei den Anbietern noch vorhanden. Die Behauptung, der Kühlschrank des Quick Freeze sei stets leer, ist also schlicht falsch. Es ist eher umgekehrt: Er ist prall gefüllt. Und mit der neuen Sicherungsanordnung wird dieser Anteil weiter steigen. Es gibt die Daten, die bei einem konkreten Anlass schnell eingefroren werden sollen. Die Telekom zum Beispiel hat mitgeteilt, dass sie sie sieben Tage lang speichert.

Schon für die Sicherungsanordnung soll ein Richtervorbehalt gelten – allerdings mit einer Eilkompetenz für die Staatsanwaltschaft, wenn Eile geboten ist und selbst die bestehenden Bereitschaftsdienste für solche Richtergenehmigungen nicht schnell genug sind.

Bevor Polizei und Staatsanwaltschaft die Daten später auswerten können, muss dann erneut ein Richter über den Zugang zu den eingefrorenen Daten entscheiden. Das ist ein rechtsstaatlich sauberes Verfahren und ein Ermittlungsinstrument für die Aufdeckung von Straftaten. Auch der EuGH hat es mehrfach erwähnt. Ich halte das für einen Gewinn für Freiheit und Sicherheit zugleich – und, wie gesagt, für die Herstellung von Rechtsfrieden in einem Konflikt, der nun schon fast zwei Jahrzehnte andauert.

Ich will ausdrücklich etwas zur Frage sagen, warum ich keine Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen ermöglichen möchte.

Auch die massenhafte Speicherung von IP-Adressen aller Bürgerinnen und Bürger ist eine pauschale Überwachungsmaßnahme. Sie stellt alle Bürger unter Generalverdacht.

Wenn wir im Netz surfen, hinterlassen wir überall unsere aktuelle IP-Adresse. Wenn wir Nachrichten lesen. Wenn wir nach einem Geschäft oder einem Arzt suchen. Wenn wir Informationen zu Themen suchen, die uns beschäftigen, seien es Probleme in der Ehe, eine schwere Krankheit oder finanzielle Schwierigkeiten.

Mit der IP-Adresse halten die Anbieter des Internetzugangs den Schlüssel in der Hand, der diese Besuche meiner Person, oder genauer: meinem Anschluss zuordnen kann. Es ist gewissermaßen der Schlüssel zu meinem digitalen Tagebuch. In einem liberalen Rechtsstaat ist es nicht richtig, die Telekommunikationsanbieter zu einer massenhaften und anlasslosen Speicherung dieser Schlüssel zu verpflichten.

Der EuGH hat übrigens betont, dass eine mögliche Speicherung von IP-Adressen nur für einen „auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum“ erfolgen darf. Nach den jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen zur Vorratsdatenspeicherung rate ich uns dringend davon ab, nun die genaue Bedeutung dieses Zeitraums juristisch auszufechten. Sonst stehen wir vermutlich in einigen Jahren wieder vor der gleichen Situation wie heute! Der EuGH beurteilt dann deutsches Recht gegebenenfalls wieder als grundrechtswidrig. Denn wer will schon heute wissen, ob das absolute Minimum sechs Tage oder sechs Monate sind?

Und, ein letztes wichtiges Argument hier: Wer bei kriminellen Aktivitäten im Netz genau nicht will, dass man ihn über die IP-Adresse erwischt, geht sowieso über ein Tor-Netzwerk ins Netz, das die ursprüngliche IP-Adresse eines Internet-Nutzers anonymisiert beziehungsweise verschleiert.

Also: Mit „Quick Freeze“ stellen wir ein Instrument zur Verfügung, das verfassungsgemäß und rechtssicher sein wird. Und allein diese Rechtssicherheit ist nach dem jahrelangen Hin und Her, das alle Beteiligten verrückt gemacht hat, schon ein Wert an sich.

Das waren ein paar Antworten auf die Frage nach den Grenzen staatlichen Handelns in der digitalen Welt. Wir werden insgesamt mit dem Prinzip Ernst machen: Jeder staatliche Eingriff in Bürgerrechte verlangt eine sehr gute, eine tragfähige und evidenzbasierte Begründung.

Und was sollen private Plattformen und ihre Nutzer im Netz dürfen und nicht dürfen?

Es ist ja unbestritten, dass Plattformen und Soziale Netzwerke verstärkend wirken auf die zunehmende Erregungsintensität der politischen Debatten, die wir seit Jahren beobachten.

Frust und Aggressivität treiben im Netz schlimmste Blüten: Hassrede, Morddrohungen, Gewaltpropaganda oder Aufrufe zu bedrohlichen Versammlungen, die Politiker, Wissenschaftler oder Journalisten einschüchtern sollen.

Eine Reaktion darauf war 2017 das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das NetzDG. Es verpflichtet Online-Dienste, ihnen gemeldete Inhalte innerhalb bestimmter Fristen zu entfernen, wenn sie rechtswidrig sind.

Und Plattformen – das ist ein zweites Problem – spielen mitunter tatsächlich selbst auch eine ungute Rolle bei der Verengung des Diskursraumes, die wir zum Schaden guter Debatten erleben.

Ein Beispiel will ich nennen, das gerade durch Recherchen von NDR, WDR und „Tagesschau“ öffentlich wurde: Wer sich auf der chinesischen Videoplattform Tiktok zur sexuellen Orientierung, zum Völkerrecht oder zur Klimapolitik in Kommentaren äußert, muss damit rechnen, ausgeschlossen zu werden. Offenbar unterdrückt der Konzern mit Wortfiltern bestimmte Themen – und ohne dass die Nutzer davon erfahren oder die entsprechenden Regeln und Algorithmen offengelegt würden.

Der Digital Services Act, DSA, das neue Gesetz der EU für das Internet, das gerade beschlossen ist und das mit EU-weit einheitlichen Regeln das NetzDG dann ablösen wird, enthält genau dagegen Regeln und schützt so die Meinungsfreiheit im digitalen Raum. Plattformen dürfen künftig Beiträge nicht einfach löschen und müssen ihre Löschentscheidungen auf Antrag überprüfen. Sie müssen künftig in ihren Geschäftsbedingungen erklären, welche Inhalte eingeschränkt und welche Algorithmen dafür eingesetzt werden. Das gilt auch für Plattformen mit Sitz im Ausland, wenn der Dienst auch Bürgern in der EU angeboten wird.

Der DSA wird das gesamte Ausmaß der Moderation von Inhalten auf den Plattformen transparent machen.

Und auch die mit dem DSA kommenden Regeln machen klar: Plattformen dürfen nicht hinnehmen, wenn ihre Dienste zur Verbreitung strafbarer Inhalte missbraucht werden. Morddrohungen, aggressive Beleidigungen und Aufrufe zu Gewalt sind kein Ausdruck von Meinungsfreiheit, sondern Angriffe auf die freie und offene Debatte.

Soziale Netzwerke müssen einen Ansprechpartner in Deutschland benennen und einen für die Nutzer leicht erkennbaren Meldeweg für strafbare Inhalte einrichten.

Genau daran hält sich ein Dienst wie Telegram nicht. Der macht uns Sorgen, weil er auch von rechtsextremistischen Gruppen und Gewaltpropagandisten genutzt wird. Telegram ist nicht nur ein Messenger-Dienst. Es gibt bei Telegram auch offene Kanäle, einige mit mehr als 100.000 Nutzern.

Wir versuchen, gegen Telegram das Recht durchzusetzen. Das ist nicht leicht bei einem Dienst, dessen Sitz in Dubai ist. Aber den gesetzlichen Vorgaben kann man sich auch nicht durch den Versuch der Nichterreichbarkeit entziehen. Wir bleiben dran. Und wir kommen voran.

Das Bundesamt für Justiz hat gerade zwei Bußgeldbescheide in Höhe von insgesamt mehreren Millionen Euro gegen Telegram erlassen. Ich bin froh, dass unser konsequenter Einsatz uns hier einen Schritt weitergebracht hat.

Die Verfahren gegen Telegram wurden bereits im Jahr 2021 eingeleitet. Zunächst konnten die Anhörungsschreiben an die Büroadresse des Dienstes in Dubai aber nicht zugestellt werden. Das BfJ hat dann im März 2022 entschieden, im Bundesanzeiger eine Benachrichtigung bekanntzumachen, dass die Anhörungsschreiben beim BfJ eingesehen oder abgeholt werden können. Damit galten die Anhörungsschreiben zwei Wochen nach der Bekanntmachung dieser Benachrichtigung als zugestellt.

Erst danach bestellte Telegram für die beiden Bußgeldverfahren eine Anwaltskanzlei. Die nahm im Juni 2022 Akteneinsicht und nahm auch zu den Vorwürfen Stellung. Das BfJ hat die Stellungnahmen geprüft, fand aber die Vorwürfe nicht entkräftet – und hat dann jetzt die beiden Bußgeldbescheide erlassen.

Der Druck, den wir als Bundesregierung seit Monaten hartnäckig auf Telegram ausüben, zeigt Wirkung!

Ich komme zu meinem vorletzten Gedanken: Bei all dem, was wir den Plattformen an Meldewegen und Selbstreinigung vorgeben, brauchen wir vor allem eines in diesem Bereich viel mehr: schlicht Strafverfolgung und Verurteilungen!

Beleidigungen; die Billigung von schweren Straftaten; die Bedrohung mit schweren Straftaten; die Verbreitung von sogenannten Feindeslisten: All das, ob online oder offline, steht nach geltendem Recht unter Strafe. Die Verfolgung solcher Straftaten läuft in vielen Fällen auch erfolgreich. Wichtig ist ein hoher Fahndungsdruck im Netz, etwa durch Online-Streifen.

Wie auf den öffentlichen Plätzen in der analogen Welt, muss die Polizei auch auf den öffentlichen Plätzen in der digitalen Welt präsent sein und einschreiten, wenn dort Recht verletzt wird.

Und Strafverfolgung in Deutschland wird intensiver. Im März etwa haben Bundeskriminalamt, die Frankfurter Zentralstelle für Internetkriminalität und Länderpolizeien in 13 Bundesländern über hundert mutmaßliche Verfasser von Hassbotschaften gegen Politiker und Amtsträger aufgesucht und Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im Juni hat die Polizei in ganz Deutschland die Wohnungen von 75 Personen durchsucht, denen die Veröffentlichung von Hasspostings im Zusammenhang der Ermordung der zwei Polizisten im Kreis Kusel vorgeworfen wurde.

Zu verleumden, zu beleidigen, zu bedrohen – das ist nicht Meinung, das ist strafbar. Dem Click des Hasspostings folgt das Klopfen der Polizei an der Tür. Das waren wichtige Zeichen!

Manche wittern ja schon im Vorgehen gegen Hatespeech eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Aber das ist nicht der Fall. Das Vorgehen gegen Hatespeech ist im Gegenteil eine Verteidigung der Meinungsfreiheit! Drohungen, aggressive Beleidigungen sollen Menschen ja gerade einschüchtern, mundtot machen, ausschließen aus dem Diskursraum! Dagegen vorzugehen, ist Schutz der Bürgerrechte und Schutz des freien und offenen Diskurses!

Aber so wichtig all diese Bemühungen sind, das ist mein letzter Gedanke heute – sie haben einen Haken, oder zwei Haken, die ich nennen will.

Erstens: Etwa bei Telegram kommunizieren extreme Gruppen, die dorthin gegangen sind, nachdem auf anderen Plattformen, auf Facebook oder Instagram die entsprechenden Accounts gelöscht wurden. Es gibt Ausweichbewegungen, und es wird sie immer geben.

Probleme, die in der analogen Welt ihren Ursprung haben, beseitigt man nicht, indem man ihre Äußerungen im Netz beseitigt. Wir kommen um die Anstrengung des Arguments, des Streitens für Freiheit und Menschenwürde nicht herum.

Zweitens, und da komme ich zu meinem Eingangsgedanken zurück: Wir dürfen all diese Bemühungen nicht auf Haltungen oder Äußerungen erstrecken, die manchen, oder auch vielen, vielleicht nicht gefallen, die aber jedenfalls nicht strafbar sind.

Der Staat hat die Meinungs- und Redefreiheit sehr weitgehend zu schützen – auch gegen gesellschaftlichen Meinungsdruck und Konformitätsdruck, der sehr groß sein kann.

Die Mehrheit, auch die nur scheinbare Mehrheit, kann sehr einschüchternd sein. Das sahen schon Liberale wie Alexis de Tocqueville oder John Stuart Mill im 19. Jahrhundert. Und Einschüchterung von Mindermeinungen, auch wenn viele sie absurd finden, können wir Menschen uns nicht leisten.

Diese klassische Begründung der Meinungsfreiheit hat John Stuart Mill sehr eindrucksvoll 1859 in seinem Essay „On Liberty“, „Über die Freiheit“, entwickelt: Es gibt den grundsätzlich überlegenen Standpunkt nicht, von dem man – im Besitz der Wahrheit – die Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit aller anderen ein für alle Mal beurteilen könnte. Das zeigt auch die historische Erfahrung. Wahrheit ist etwas, dem wir uns nur annähern, indem wir jede Meinung hören – und wenn es ein Einziger wäre, der anderer Meinung ist als alle anderen.

Es gibt stets mehr als nur eine legitime Meinung – und nicht jede Zumutung ist unzumutbar.

Jedenfalls: „Das subjektive Gefühl, verletzt zu sein, kann die Strafbarkeit einer Handlung kaum begründen.“ So neulich, und ich stimme nachdrücklich zu, Rolf Schwartmann, Jura-Professor in Köln und Vorsitzender der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit.

Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat das in seinem Buch über die Redefreiheit vor Jahren für unsere digitale Zeit formuliert. Er empfiehlt eine robuste Zivilität, wie er sie nennt: sich ein dickeres Fell zuzulegen; weniger beleidigt zu sein; Empfindlichkeit auch zu mäßigen, um Freiheit nicht zu ersticken – gegen eine geduckte und ängstliche kommunikative Atmosphäre, die den Diskursraum verengt. Und er empfiehlt, der Hassrede immer auch mit Gegenrede, nicht nur mit Strafverfolgung entgegenzutreten!

Vielen Dank für heute – und ich freue mich jetzt auf die Diskussion!

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