Sehr geehrter Herr Professor Blank,
sehr geehrter Herr Professor Danziger,
sehr geehrter Herr Professor Stauber,
sehr geehrte Studentinnen und Studenten,
sehr geehrte Damen und Herren!
I.
Einer der vielen namhaften Absolventen Ihrer Universität war Josef Lapid, der inzwischen verstorbene frühere Justizminister. Im Februar 2005 sollte der damalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler vor der Knesset sprechen. Dazu sagte Lapid:
Das deutsche Staatsoberhaupt im israelischen Parlament begrüßen zu können, sei der beste Beweis dafür, dass es den Nationalsozialisten nicht gelungen sei, das jüdische Volk zu besiegen.
Wir Deutschen können nur ewig dankbar sein für diesen Beweis – und ewig dankbar, dass es uns gelungen ist, neben dem ewigen Verhältnis der historischen Schuld auch ein Band der tiefen und hoffentlich ewigen Freundschaft zwischen unseren Ländern zu knüpfen.
Voller Dankbarkeit bin ich auch, dass ich als deutscher Politiker in Israel, in Tel Aviv, sprechen darf. Das mag inzwischen Normalität sein – selbstverständlich ist es nicht.
II.
Ich komme gerade aus Yad Vashem. Als Deutscher empfinde ich dort tiefe Scham. Und zugleich bewundere ich diesen Ort, der davon zeugt, dass man den Opfern ihr Leben nehmen konnte, aber ihre Würde weiterlebt.
Heute vor genau 90 Jahren, am 20. Februar 1933, schrieb der deutsche Historiker Friedrich Meinecke an seinen Kollegen Walter Goetz:
„Wir müssen uns in der Tat auf schlimmste Dinge gefasst machen, und wir dürfen nicht schweigend sie abwarten“, und er warnte vor „dem sich öffnenden Abgrunde“.
Wie breit und tief dieser Abgrund werden sollte, wie gerechtfertigt der Superlativ von den „schlimmsten Dingen“ war, konnte Meinecke nicht ahnen.
Heute wissen wir das sehr genau. Und wir Deutschen werden nicht vergessen, dass es Deutsche waren, die diese Taten verübt und diesen Abgrund geöffnet haben.
Die Erinnerung an diese Zeit, und die Auseinandersetzung mit ihr, sind feste Bestandteile der deutschen politischen Kultur geworden. Erinnerung und Auseinandersetzung drücken sich aus in Gedenktagen, in akademischer Forschung und Vermittlungsarbeit, in Ausstellungen und Mahnmalen.
Viele von Ihnen werden das Holocaust-Denkmal in Berlin kennen, das große Stelenfeld südlich vom Brandenburger Tor.
Wenn Sie es von außen betrachten, übersehen Sie es in seiner Gesamtheit. Sie können Ihren Blick schweifen lassen und könnten sogar einen Großteil der fast dreitausend Stelen zählen.
Wenn Sie sich dann aber ins Innere des Feldes begeben, verlieren Sie diesen Überblick, sehen immer weniger der Betonquader – bis Sie umgeben sind von fast fünf Meter hohen Stelen, die sich um Sie herum auftürmen, groß und einschüchternd wie bedrückend.
Ich habe diese Erfahrung immer als Metapher verstanden für die Beschäftigung mit Geschichte, erst recht mit den dunkelsten Seiten der Geschichte.
Geschichte wird nicht kleiner, überschaubarer, je mehr man sich mit ihr auseinandersetzt. Sie wird größer, gewaltiger, manchmal auch unheimlicher, ja abgründig.
III.
Mit dem „Rosenburg-Projekt“ hat das deutsche Bundesministerium der Justiz sich seiner eigenen Geschichte gestellt. Meine Vorgängerin, die damalige Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, setzte vor zehn Jahren eine Unabhängige Wissenschaftliche Kommission ein, die die Geschichte des Hauses in den Jahren 1950 bis 1973 erforschen sollte, als das Ministerium seinen Sitz in der Rosenburg in Bonn hatte.
Die Ergebnisse wurden 2016 in der Studie „Die Akte Rosenburg“ publiziert. Seit 2017 präsentieren wir sie auch im Rahmen einer Wanderausstellung, die nach verschiedenen Stationen in Deutschland, Polen und den USA nun in Israel angekommen ist.
Die personellen Kontinuitäten zwischen dem NS-Staat und dem frühen Bundesministerium der Justiz nachzuzeichnen,
den Umgang des Ministeriums mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu erforschen,
ja, insgesamt das Nachwirken des Nationalsozialismus in unserem Haus darzustellen:
Das waren die Aufgaben der Kommission.
Die Ergebnisse sind erschreckend:
Von den 170 Juristen, die von 1949 bis 1973 in Leitungspositionen des Ministeriums tätig waren, hatten 90 der NSDAP und 34 der SA angehört.
16 Prozent waren im nationalsozialistischen Reichsjustizministerium selbst tätig gewesen.
1953 waren im Ministerium und seinem Geschäftsbereich von 968 Stellen 513 mit Beamten besetzt, die bereits im Nationalsozialismus Staatsdiener gewesen waren.
Schon diese wenigen Fakten zeigen: Nicht nur vor 1945 habe zu viele Menschen weggesehen; auch nach 1945 haben es zu viele getan.
Der erste Staatssekretär im Ministerium, Walter Strauß, sagte einmal, seine Beamten hätten einen „Schatz an Erfahrungen“ aus dem NS-Reichsjustizministerium in die Arbeit des BMJ herübergetragen.
Aus dieser Formulierung sprach keine Sympathie für das NS-Regime. Walter Strauß selbst war jüdischer Herkunft. Seine Eltern wurden 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Er selbst kam nur knapp mit dem Leben davon.
Hinter der Formulierung vom „Schatz an Erfahrungen“ steht eine Vorstellung vom Juristen als einem bloßen Rechtstechniker, einem Ingenieur, der sich in der unpolitischen Welt des rein Funktionalen bewegt, die sich trennen lasse von den Zwecken seines Tuns – egal wie unmenschlich sie sind.
Dahinter steht aber auch die Tragik des deutschen Bürgers aus jüdischer Familie, Walter Strauß, der in seiner Heimat weiterleben wollte und der zugleich wusste, dass er das inmitten von Tätern tun musste.
IV.
Man betreibt Vergangenheitsforschung nicht um ihrer selbst willen. Wir wollten aus dieser Aufarbeitung der Geschichte unseres Ministeriums Schlussfolgerungen für die Gegenwart ziehen.
Die Perversion des Rechts während der NS-Zeit zeigt: Juristinnen und Juristen dürfen sich nicht nur als Techniker des Rechts verstehen, die jede beliebige politische Idee in Paragraphen gießen und sie vollstrecken.
Die Rechtswissenschaft ist normativ, und daher gehört es zu ihrer Aufgabe, normative Mindeststandards der Menschlichkeit zu verteidigen.
Eine der Konsequenzen aus den Erkenntnissen des Rosenburg-Forschungsprojekts ist die Neufassung des Paragrafen 5a des Deutschen Richtergesetzes gewesen.
In Absatz 2 Satz 3 heißt es dort nun:
„die Vermittlung der Pflichtfächer erfolgt auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur.“
Wir wollen pädagogische Situationen schaffen, die den schleichenden Weg zum Unrecht erkennbar machen – die Entstehung der Strukturen und die allmähliche Veränderung der Mentalität, die solche Strukturen trägt.
Um all das zu erkennen, bedarf es eines wachen und empfindlichen Geistes. Wir hoffen, dass man diesen Geist an der Universität schulen kann.
V.
Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel schrieb einmal, das einzige, was man aus der Geschichte der Völker lernen könne, sei, dass die Völker aus der Geschichte nichts lernten. Ich bin optimistischer: Aus der Geschichte zu lernen – das bleibt unsere Pflicht; und dieser Pflicht nachzukommen, ist nicht unmöglich.
Mein Land bemüht sich jedenfalls nach Kräften darum, dass wir nie wieder ein Land der Täter werden, sondern für immer ein Land der Freiheit, des Rechts und der Demokratie bleiben.
In vier Tagen wird sich Putins Überfall auf die Ukraine jähren.
Ein Diktator bringt Krieg und Tod über Millionen von Menschen. Die freie Welt hat schon einmal erfahren, dass man einen Diktator mit Appeasement-Politik nicht stoppen kann.
Aus der Geschichte zu lernen bedeutet zu erkennen, dass ein Diktator Appeasement immer als Einladung versteht, den Weg der Gewalt weiterzugehen. Das dürfen wir als freie Welt nicht zulassen! Die Prinzipien von Freiheit und Sicherheit müssen sich behaupten, deswegen steht die Staatengemeinschaft an der Seite der Ukraine! Deswegen steht Deutschland heute an der Seite der Ukraine!
Aus der Geschichte zu lernen bedeutet zu erkennen, dass in der Demokratie jede und jeder zum Staat gehört; dass aber auch die demokratisch legitimierte Mehrheit nicht alles darf. Wir Deutschen haben heute ein starkes Grundgesetz, das auch der Mehrheit Grenzen ihrer Macht aufzeigt.
Aus der Geschichte zu lernen bedeutet zu erkennen, dass Grundrechte ihrem Wesen nach Minderheitenrechte sind. Daher darf es gerade nicht die Mehrheit sein, die das letzte Wort über sie behält.
In Deutschland liegt deshalb das letzte Wort über die Bedeutung der Grundrechte beim Bundesverfassungsgericht.
Aus der Geschichte zu lernen bedeutet zu erkennen, dass sich Demokratien mit ihren eigenen Mitteln selbst abschaffen können, wenn der Mehrheit keine Grenzen gesetzt sind.
Deshalb enthält unser deutsches Grundgesetz ein System der checks and balances. Dazu gehört eine starke, unabhängige Justiz, die der Politik auch Einhalt gebieten kann, wenn sie das Grundgesetz und damit das Recht verletzt.
Aus der Geschichte zu lernen bedeutet zu erkennen, dass man breite Mehrheiten suchen sollte, wenn man die Spielregeln des demokratischen Wettbewerbs und das Zusammenspiel der Verfassungsorgane verändern möchte.
Daher sind in Deutschland Änderungen des Grundgesetzes nur möglich, wenn eine Mehrheit von zwei Dritteln in Bundestag und Bundesrat es beschließt. Das gelingt regelmäßig nur dann, wenn auch große Teile der Opposition von der Notwendigkeit der Änderung überzeugt sind.
Aus der Geschichte zu lernen bedeutet, immer am offenen Austausch festzuhalten – an der Wägung von Argumenten, an der Offenheit für Kritik und Widerspruch und an der Möglichkeit, einen eingeschlagenen Kurs auch wieder zu ändern. Vorschläge zu machen, sie der demokratischen Debatte auszusetzen und sie dann zu verändern und zu verbessern – das ist nicht Schwäche, das ist Stärke, und das ist weise!
Es ist das, was uns liberale Demokratien gegenüber allen autoritären Systemen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auszeichnet, die stets in Erstarrung untergehen!
Ich glaube daran, anders als Hegel, dass Völker aus der Geschichte etwas lernen können. Wie sonst sollte die Welt uns Deutschen glauben, dass wir heute ein Land sind, das sich ernsthaft und nachhaltig der Freiheit, der Demokratie und dem Recht zugewandt hat? Wir haben aus den Abgründen unserer eigenen Geschichte gelernt. Wir haben aber auch vieles aus der Geschichte anderer Völker gelernt:
Die Demokratie haben wir von unseren französischen Freunden gelernt; im Parlamentarismus sind uns häufig unsere Freunde aus dem Vereinigten Königreich Vorbild; und dass sich alle Staatsgewalt an die Verfassung halten muss und dass es notfalls ein oberstes Gericht geben muss, das genau das kontrolliert, das haben wir von unseren US-amerikanischen Freunden und aus der legendären Entscheidung Marbury versus Madison des dortigen Supreme Court gelernt.
Von Freunden zu lernen ist nicht Schwäche, sondern Stärke.
Lernen wir aus der Geschichte, meine Damen und Herren!
Und schaffen wir – wie mit dieser Ausstellung – genau dafür immer neue Grundlagen!
Ich danke noch einmal allen Beteiligten, ganz besonders der
Buchmann Faculty of Law und der David J. Light Law Library dafür, dass sie ihre Räume zur Verfügung gestellt haben – und ich wünsche der Ausstellung viele Besucher!
Herzlichen Dank!
Todá rabá!