Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein – in dieser Versammlung der Justiz, also einer der Säulen unserer Republik.
Ich komme gerade aus dem Haus der Weimarer Republik, nur einen halben Kilometer von hier entfernt. Man gewinnt dort einen intensiven Eindruck von der Geschichte dieser Zeit, in der Verheißung und Verzweiflung so nah beieinanderlagen.
Die Weimarer Republik war ein großes Freiheitsversprechen, das sich nicht erfüllte.
Gründe dafür gab es viele:
Die Mentalität der Bürgerinnen und Bürger und die politische Kultur des Weimarer Staates stützten und trugen die liberale Demokratie nicht ausreichend;
die Verfassungsväter von Weimar hatten kein Verfassungsvolk, wie man einmal gesagt hat;
und es fehlte an starken Institutionen, die die liberale Demokratie schützen konnten und schützen wollten. Regierungen, Parteien, Justiz: Zu vielen war die Demokratie ein Wagnis, das sie ungern eingingen und dem sie sich nicht verpflichtet fühlten.
Heute sieht es zum Glück anders aus: Wir haben nicht nur eine Bevölkerung, die sich in überwältigender Mehrheit mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Landes identifiziert; wir haben außerdem eine politische Kultur, die zutiefst demokratisch ist, und wir haben starke Institutionen, die unseren liberalen Rechtsstaat schützen.
Dass unsere Demokratie wehrhaft ist, zeigt sie in diesen Wochen und Monaten gegen die sogenannten Reichsbürger. Der Generalbundesanwalt lässt da keinen Zweifel.
Genauso gehen wir gegen Verfassungsfeindlichkeit in Staatsämtern vor. Polizisten oder Soldaten, die sich extremistisch äußern, dürfen nicht auf Nachsicht hoffen. Extremisten dürfen auch nicht ehrenamtliche Schöffen werden; das stellen wir gerade gesetzlich klar.
Wir haben Sicherungen gegen die Selbstabschaffung der Demokratie vor allem auch in Form der Gewaltenteilung. Zu dieser gehört eine starke, unabhängige Justiz. Eine selbstbewusste und kritische Richterschaft ist für den Rechtsstaat so unverzichtbar wie eine engagierte Anwaltschaft. Eine Richterschaft und Anwaltschaft, die ihre Meinung äußern, die beraten, widersprechen und mit denen man über Fragen des Rechts diskutieren kann, sind notwendig für gute Rechtspolitik in der Demokratie.
Denn Streit ist die Kehrseite der Freiheit. Der Streit im Gewande der Disputation an der Universität, des Wettbewerbs in der Wirtschaft, der Parlamentsdebatte in der Politik und – ja – auch der Streit vor Gericht führen zu produktiveren und gerechteren Lösungen als die Friedhofsruhe des Autoritarismus.
Und deshalb danke ich Ihnen, meine Damen und Herren, also für Ihre wertvolle Arbeit und auch für Ihre Streitbarkeit!
„Programmiertes Recht – absolute Gerechtigkeit?“ – das ist die Überschrift Ihrer Tagung. Es wird in diesem Raum wohl niemanden geben, der oder die darauf antwortet: „Ja, genau so ist es!“
Man ginge aber fehl, glaube ich, wenn man aus dieser eher polemisch-rhetorischen Frage auf eine allgemeine Digitalskepsis der Richterschaft schlösse. Eine solche Skepsis könnten wir uns auch nicht erlauben. Ich bin mir sicher, dass niemand in diesem Raum die Frage aufwirft, ob wir in Zukunft digitaler werden – im Privaten, im Alltag, im Beruf, im Staat. Denn die eigentliche Frage ist doch:
Wie schnell geschieht das – und wie?
Mein Ansatz, für den ich auch heute hier bei Ihnen werben will, ist: Warten wir nicht, dass die digitale Transformation über uns in Justiz und Politik hinwegfegt. Sondern sprechen wir darüber, wie wir sie gestalten und zu einem Gewinn für unser Land, unsere Gesellschaft und unsere Justiz machen!
Bei allen Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, und bei allen Chancen, die wir mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz verbinden, ist klar: In einem humanen Rechtsstaat dürfen Gerichtsentscheidungen nur von Richterinnen und Richtern aus Fleisch und Blut gefällt werden.
Ihnen vertrauen wir nicht nur wegen ihrer Unabhängigkeit; sondern auch weil nur sie in der Lage sind, allen Facetten des Einzelfalls Rechnung zu tragen.
Meine feste Überzeugung lautet: Die Würde des Menschen bedeutet, dass der Mensch das Maß aller Dinge im Rechtsstaat ist. Daraus folgt, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Richter immer eine Entscheidung durch einen Menschen beinhaltet. Deutschland hat sich daher für ein Verbot von „Robo Judges“ in der KI-Verordnung der EU eingesetzt.
Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind natürlich auch eine große Hilfe für die Justiz. Denken Sie z.B. an maschinelle Übersetzung, Spracherkennung oder die Bewältigung von Massenverfahren wie etwa am OLG Stuttgart durch einen Massenverfahrensassistenten zur Fallbearbeitung in Dieselabgasverfahren. Denken Sie an Systeme, die in langatmigen Schriftsätzen Dubletten und Textbausteine erkennen und den wirklich neuen Vortrag in der Sache markieren. Auch das kann eine große Hilfe sein!
„Digitale Justiz“ zählt daher bewusst zu den Leuchtturmprojekten in der Digitalstrategie des Bundes. Ich möchte gemeinsam mit den Ländern den digitalen Rechtsstaat fortentwickeln und biete den Ländern daher auch finanzielle Kooperation an.
Morgen kommen die Landesjustizministerinnen und Landesjustizminister und ich zusammen, um genau darüber zu verhandeln.
Wir wollen jetzt die rechtlichen Voraussetzungen schaffen, dass noch mehr technische Möglichkeiten genutzt werden können: Um die Attraktivität der Justiz als Arbeitgeber zu erhöhen; um den Bürgerinnen und Bürgern zu zeigen, dass sie eine Justiz und einen Rechtsstaat auf der Höhe der Zeit haben; um Richterinnen und Richter in ihrer Arbeit zu entlasten, und auch um Prozesse zu beschleunigen und deren Qualität noch zu verbessern.
Mit dem Gesetzentwurf zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten geht es uns beispielsweise darum, die Justiz zu entlasten und sie digitaler und bürgernäher zu machen. Verfahren sollen schneller, kostengünstiger, ressourcenschonender und nachhaltig durchgeführt werden.
Wir wollen, dass Videoverhandlungen auch unabhängig von einer Pandemie Teil des gerichtlichen Alltags werden.
Der Entwurf erweitert und flexibilisiert rechtliche Möglichkeiten für Videoverhandlungen und Videobeweisaufnahmen.
Und durch Beweisaufnahmen und Verhandlungen per Video können Zeit und Kosten für die Anreise an den Gerichtsort gespart und kann die Terminierung von mündlichen Verhandlungen erleichtert werden. Auch das beschleunigt Prozesse.
Es gibt Kritik an diesem Entwurf, auch von Ihrer Seite. Ich will Ihnen versichern: Selbst, wenn uns manch eine Formulierung etwas überspitzt erscheint, werden wir uns Verbesserungsvorschläge selbstverständlich sehr genau anschauen.
Anderen wiederum geht manches hier nicht weit genug.
Ein Anspruch auf eine Videoverhandlung wird gefordert. Das ist eine Erwartungshaltung, mit der wir als Rechtsstaat umgehen müssen. Ich glaube, dass es gute Gründe gibt, warum man als Richter die Parteien doch in Präsenz vor sich haben muss. Wir werden beide Positionen, die für sich legitim sind, zusammenführen.
Manch einer, der die Stellungnahmen des Deutschen Richterbundes der letzten Wochen liest, wirft ihm vor, er sei technikfeindlich. Ich glaube, dieser Eindruck ist falsch. Dazu muss ich mir nur die mehr als 50.000 Gerichtsverhandlungen ansehen, die im ersten Corona-Jahr per Videokonferenz stattfanden.
Die deutschen Gerichte sind technischen Möglichkeiten und Neuerungen gegenüber offen. Damals wurden Sie alle von der Corona-Pandemie ins kalte Wasser geworfen. Aber Sie haben keine Scheu, die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen – wenn nötig, auch ohne große Vorlaufzeit. Auf dieses Engagement und dieser Bereitschaft wollen wir aufbauen. Lassen Sie uns gemeinsam in die digitale Moderne aufbrechen!
Meine Damen und Herren, der Rechtsstaat ist für die Menschen da. Für die Menschen, die ihr Recht suchen. Da gibt es keine guten und keine schlechten Kläger. Diesen Eindruck sollten wir vermeiden – und gerade sie als Richterinnen und Richter.
Das gilt, auch wenn Massenverfahren dazu führen, dass die Zivilgerichte stark belastet sind.
Die Gerichte haben hier selbst schon Einiges getan, um des Problems Herr zu werden: durch Spezialspruchkörper, Vernetzung und den verstärkten Einsatz von IT.
Auch als Gesetzgeber werden wir tätig werden. Wir wollen dafür sorgen, dass zentrale Rechtsfragen schnell höchstrichterlich geklärt werden. Wir haben in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit den Ländern schon intensiv über den besten Weg diskutiert. Wir tendieren nun zu einem Leitentscheidungsverfahren beim BGH.
Damit gehen wir das Problem an, dass die Parteien sich in einer Reihe von Fällen in der Revisionsinstanz vor einem Urteil des BGH einigen. Aus Sicht der Parteien ist das nicht zu beanstanden. Aus der Perspektive des Rechtssystems dauert es so aber länger bis zu einer Grundsatzentscheidung.
Durch unseren Vorschlag könnte der BGH ein geeignetes Verfahren auswählen, das ein möglichst breites Spektrum an offenen Rechtsfragen bietet, die er, wie bisher, selbst identifizieren könnte. Er entschiede über diese Rechtsfragen auch dann, wenn die Parteien die Revision zurücknähmen.
Der BGH würde durch das Leitentscheidungsverfahren nicht stärker belastet, aber die Gerichte würden durch die schnellere Entscheidung des BGH erheblich entlastet. Demgegenüber wirft das ebenfalls vielfach diskutierte Vorabentscheidungsverfahren zahlreiche Folgefragen auf.
Ich freue mich, dass sich hier unsere Ideen mit denen der OLG-Präsidenten decken und dass auch die BRAK findet, dass sie in die richtige Richtung gehen.
Aber das Leitentscheidungsverfahren allein reicht natürlich noch nicht aus, um die Justiz nachhaltig zu entlasten. Daher wollen wir die Bund-Länder-Arbeitsgruppe fortsetzen und dort weitere Maßnahmen prüfen, darunter auch die Vorschläge des Richterbundes.
Die Entlastung bei den Massenverfahren spielt auch eine Rolle im Entwurf zur Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie, auf den wir uns heute im Kabinett geeinigt haben.
Den Entwurf innerhalb der Bundesregierung abzustimmen, war anspruchsvoll. Das haben Sie sicherlich mitbekommen.
Aber ich glaube, wir haben da jetzt eine gute Lösung gefunden:
Kern des Gesetzentwurfs ist die Einführung einer neuartigen Klageform für Verbandsklagen, die sogenannte Abhilfeklage.
Sie wird zusammen mit den bereits etablierten Musterfeststellungsklagen in einem neuen Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz geregelt.
Eine Abhilfeklage kann ein Verbraucherverband gegen einen Unternehmer erheben, um Ansprüche von Verbrauchern beispielsweise wegen Produktmängeln oder unzulässiger Preisklauseln geltend zu machen. Dabei müssen die Ansprüche von mindestens 50 Verbrauchern betroffen sein. Die Verbraucher brauchen nicht selbst zu klagen und profitieren vom Verfahren unmittelbar. Wird der Abhilfeklage stattgegeben, erhalten die von der Klage betroffenen Verbraucher später beispielsweise den Geldbetrag, der ihnen zusteht, direkt von einem Sachwalter ausgezahlt, der das Urteil umsetzt.
Es profitieren von dieser Klage die Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich zu Beginn des Verfahrens beim Verbandsklageregister angemeldet haben – das sogenannte Opt-in. Die Frist zur Anmeldung endet zwei Monate nach dem ersten Termin des gerichtlichen Verfahrens.
Kleine Unternehmen werden den Verbrauchern gleichgestellt, das heißt, auch sie können sich beim Verbandsklageregister mit ihren Ansprüchen zu einer anhängigen Verbandsklage anmelden.
Der Entwurf vereinfacht damit den Zugang zum Recht und hilft Verbraucherinnen und Verbrauchern, ihre Ansprüche geltend zu machen;
er ist zugleich fair gegenüber den Unternehmen, die damit schneller Rechtssicherheit erhalten;
und er entlastet, so hoffen wir, gleichzeitig die Justiz: der Bündelungseffekt, den Verbandsklagen haben, soll den massenhaften Einzelklagen entgegenwirken.
Die Stellungnahme des Richterbundes zeigt, dass Sie, meine Damen und Herren, den Entwurf für ja gar nicht so schlecht halten, sondern eigentlich für ganz gelungen. Ich hätte es schön gefunden, wenn deutlich geworden wäre, dass wir in der Sache sehr viel enger beieinander sind, als es in manchem Zeitungsartikel schien.
Aber das mache ich ja jetzt mit meiner Anmerkung hier deutlich!
Ich will abschließend noch ein paar Worte zu einem Referentenentwurf sagen, der gerade auf meinem Schreibtisch liegt: ein Entwurf zu den Commercial Courts – und auch dieses Thema hat mit der Entlastung der Gerichte zu tun.
Worum geht es bei den Commercial Courts?
Wir wollen den Ländern die Befugnis einräumen, Zivilsenate auf der Ebene der Oberlandesgerichte einzurichten.
Vor diesen Zivilsenaten können privatrechtliche Wirtschaftsstreitigkeiten von Unternehmern ab einem Streitwert von einer Million Euro erstinstanzlich geführt werden – wenn sich die Parteien hierauf verständigt haben. Die Commercial Courts werden das Verfahren entweder in deutscher oder in englischer Sprache führen – auch das hängt von der Vereinbarung der Parteien ab. Sollten sich die Parteien auf die englische Sprache geeinigt haben, so ist das Verfahren vollständig in dieser Sprache zu führen. Das beginnt bei der Klageschrift, setzt sich bei den Verfügungen des Gerichts und den sich anschließenden Schriftsätzen der Parteien fort und bezieht sich auch auf einzureichende Urkunden.
Gleiches gilt für die mündliche Verhandlung, das Protokoll und die abschließende gerichtliche Entscheidung. Sämtliche Schritte und Verfahrenshandlungen sind in englischer Sprache vorzunehmen.
Die Commercial Courts sind an den Oberlandesgerichten an der genau richtigen Stelle. Es sind vor allem die Pensen an den Oberlandesgerichten, die eine verstärkte Konzentration auf das einzelne Verfahren erlauben. Größere, meist komplexere und damit zeitintensivere Wirtschaftszivilstreitigkeiten sollten daher auch bei den Oberlandesgerichten gebündelt werden.
Zugleich werden die Landgerichte von solchen Großverfahren entlastet. So werden auch die dortigen Richterinnen und Richter von der Einrichtung der Commercial Courts profitieren.
Freilich wird der Aufbau der Commercial Courts eine hinreichende Ausstattung mit ausreichendem und fachlich wie sprachlich gut qualifiziertem Personal voraussetzen. Zudem wird auch die Technik auf dem neuesten Stand sein müssen.
Die Erfüllung genau dieser Voraussetzungen haben die Länder ausdrücklich zugesagt. Auch ihnen ist nämlich die besondere internationale Strahlkraft der Commercial Courts nicht verschlossen geblieben.
Meine Damen und Herren,
absolute Gerechtigkeit, die Sie im Titel Ihrer Tagung aufgegriffen haben, wird es auf Erden niemals geben. Und ein programmiertes Recht werden wir auch niemals haben. Denn Justitia wägt. Sie zählt nicht. Computer und statistische Algorithmen mögen besser zählen können als der Mensch, aber statistische Verfahren werden die Abwägung des menschlichen Richters niemals ersetzen können.
Unsere Gegenwart zeigt, dass wir nicht einmal die Herrschaft des Rechts für selbstverständlich halten dürfen. Das Eis der Zivilisation, auf dem der Rechtsstaat steht, ist dünn.
Dafür können wir unsere Geschichte betrachten, gerade hier in Weimar, aber leider auch die Gegenwart unserer Welt:
Russland bricht das Völkerrecht und tritt das Völkerstrafrecht mit Füßen.
Einzelne EU-Staaten interpretieren das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit mitunter auf mindestens irritierende Art und Weise und spielen mit Konzepten einer sogenannten illiberalen Demokratie.
Auch außerhalb unseres Kontinents stehen viele Errungenschaften der Rechtsstaatlichkeit auf dem Spiel. Das habe ich unmittelbar bei meiner Reise nach Israel erlebt.
Recht, Freiheit und Demokratie bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Wer einen Teil dieser Trias herausbricht, gefährdet die beiden anderen. Was soll die Wahl in einer Demokratie, wenn sie nicht frei ist und in einem Umfeld freier Diskussion erfolgen kann? Was nützt mir die Idee der Freiheit, wenn sie nicht auch konkret rechtlich geschützt ist? Und woher soll das Recht seine Akzeptanz und Legitimation beziehen, wenn nicht aus dem demokratischen Prinzip?
Sie, meine Damen und Herren, die Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte dieses Landes, gehören zu denen, die die Trias aus Recht, Freiheit und Demokratie zusammenhalten! Und das ist es, woran wir uns in dieser Zeit stets erinnern müssen: Trotz aller leidenschaftlichen Debatten sind wir im Ziel vereint: Recht, Freiheit und Demokratie zu verteidigen!