Ich danke Ihnen sehr für die Einladung und die Möglichkeit, zu Ihnen sprechen zu dürfen an diesem besonderen Tag.
„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.
Es ist dieser berühmte Vers Paul Celans, aus dem Gedicht „Todesfuge“, an den ich heute hier denken muss.
Das KZ Sachsenhausen, wie jedes KZ, führt uns vor Augen, wie weit es der Tod in seiner schrecklichen Meisterschaft bringen konnte.
Heute, an Yom HaShoa, gedenken wir der sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die in der Shoa ermordet wurden.
Wir gedenken sechs Millionen jüdischer Kinder, Eltern, Geschwister, Großeltern, Ehepartner, die entrechtet, verfolgt, gedemütigt und ermordet wurden.
Und wir gedenken heute insbesondere des Warschauer Ghettoaufstandes, der sich morgen zum achtzigsten Mal jährt. Es war ein Aufstand des Mutes gegen die Niedertracht, der Freiheit gegen die Tyrannei, des Rechts gegen das Unrecht.
Es war ein hoffnungsloses Unterfangen und dadurch in besonderer Weise ein heroischer Akt.
Die Truppen der Wehrmacht und der SS drangen am 19. April 1943 in das Ghetto ein, um dessen Bewohner in Konzentrationslager zu deportieren. Sie trafen auf unerwartet heftigen Widerstand – einen Widerstand tapferer Jüdinnen und Juden, den die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie mit aller Gewalt brach. Das Ghetto wurde dem Erdboden gleichgemacht. Mit der Sprengung der Warschauer Synagoge durch die Deutschen am 16. Mai 1943 fand die Niederschlagung des Aufstandes ihr symbolisches Ende. Ungefähr 20 000 Jüdinnen und Juden waren ermordet worden. Über 30 000 wurden in Konzentrationslager deportiert.
„Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!“ Das ist der mit einem triumphalen Ausrufezeichen versehene Titel des sogenannten Stroop-Berichtes. Der SS-Brigadeführer Jürgen Stroop verfasste ihn für Heinrich Himmler. Es ist ein abscheuliches Dokument, das mit der Anmutung eines familiären Fotoalbums stolz die eigenen Verbrechen präsentiert. Primo Levi schrieb von der „Scham, die die Deutschen nicht kannten“. Der Stroop-Bericht ist einer der vielen Belege dafür.
Meine Damen und Herren, Deutsche ersannen die Shoa, Deutsche organisierten sie, Deutsche führten sie aus. Dass Juden und Deutsche Yom HaShoa gemeinsam begehen, kommt daher einem Wunder gleich.
Dieses Wunder, glaube ich, hat zwei Wurzeln: Die Bereitschaft von Jüdinnen und Juden, auf das Volk der Täter wieder zuzugehen; und die Scham, die wir Deutschen begannen zu empfinden und die wir ewig empfinden werden: Die Scham vor den Gräueln, die von Deutschen und in deutschem Namen geschahen; die Scham vor den Verbrechen, die Mitglieder unserer Familien ignorierten, tolerierten oder gar verübten; die Scham vor einer Geschichte, die unser Land für immer prägen wird.
Und diese Scham verpflichtet uns. Sie verpflichtet uns, die Erinnerung wachzuhalten und dem Vergessen entgegenzuwirken. Sie verpflichtet uns, den Anfängen zu wehren und wachen Geistes die Gegenwart zu betrachten. Sie verpflichtet uns, den Antisemitismus, die Wurzel des Bösen, zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen.
Die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Erst vor zehn Tagen ist durch die deutsche Hauptstadt eine Demonstration gezogen, auf der widerlichste antisemitische Parolen skandiert wurden. Das ist eine Schande. Dass Jüdinnen und Juden sich in diesem Land nicht sicher fühlen können, dürfen wir niemals akzeptieren.
Die Bundesregierung hat daher am 30. November letzten Jahres die Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben beschlossen. Sie ist die erste Strategie der Bundesregierung, die ausschließlich der Bekämpfung von Antisemitismus und der Förderung jüdischen Lebens gewidmet ist.
Ich glaube, das ist besonders wichtig, und wir haben es zu lange vernachlässigt: jüdischem Leben noch mehr Möglichkeiten zu geben, sich zu zeigen, hörbar und sichtbar zu sein.
Die Nationalsozialisten wollten den Tod allen jüdischen Lebens.
Daran haben wir zu erinnern. Aber wir haben auch daran zu erinnern, dass Judentum vor allem bedeutet: Leben.
Heute begehen wir Yom HaShoa und gedenken der Opfer, gedenken ihrer Leiden und ihres Todes; wir erinnern uns aber auch ihrer Leben, ihres Mutes und ihrer Freuden.
Und ich bin beschämt und dankbar, meine Damen und Herren, dass ich das mit Ihnen tun darf.