Heute ist ein ganz besonderer Tag, der das Attribut „historisch“ wirklich verdient: historisch mit Blick auf den langen Vorlauf; historisch mit Blick auf den Inhalt dieses großen europäischen Projekts.
Denn heute nimmt das erste europäische Zivilgericht seine Arbeit auf.
Es spricht grenzüberschreitend Recht für private Parteien.
Seine Entscheidungen gelten unmittelbar in den Mitgliedstaaten, die teilnehmen.
Dort können die Urteile auch vollstreckt werden.
Kurz: ein supranationales Gericht in Zivilsachen.
Das ist historisch.
Mit dieser gemeinsamen Ausübung von Hoheitsrechten erreichen wir in dem besonders sensiblen Bereich der Justiz eine neue Qualität der europäischen Integration.
Zu den zahlreichen hierfür beschlossenen Sekundärrechtsakten gehört auch die Verfahrensordnung des Gerichts. Nach ihr werden die Prozesse künftig geführt.
Diese Gerichtsordnung ist ein echtes Kind Europas.
Erfahrene Praktiker aus vielen Ländern unseres Kontinents haben sie ausgearbeitet.
Und so ist im Windschatten des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht auch die erste europäische Zivilprozessordnung entstanden.
Auch das ist ein Meilenstein in der europäischen Rechtsgeschichte.
Die Arbeiten an einem Europäischen Patentgericht begannen in den 1960er Jahren. Sie verstärkten sich im Kontext der Gründung des Europäischen Patentamtes im Jahr 1973.
Es handelt sich um ein Jahrhundertprojekt!
Ja, auf Grund einer Prüfung durch das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich der Start des EPG noch einmal verzögert. Aber diese Verzögerung hat immerhin Rechtssicherheit gebracht. Fragen nach der verfassungsrechtlichen Einordnung der neuen Gerichtsbarkeit sind jetzt höchstrichterlich geklärt.
Und trotz allem blieb das Momentum erhalten, um dieses große Projekt zum Abschluss zu bringen.
Das war wichtig, und darüber bin ich froh.
Deutschland hat sich hier immer sehr engagiert – und wird das auch weiterhin tun.
Wir haben uns sehr aktiv in die Verhandlungen zum Übereinkommen eingebracht. Vor elf Jahren haben wir die Leitung der Arbeitsgruppe Recht im Vorbereitungsausschuss der Mitgliedstaten übernommen.
In diesem Ausschuss wurden wichtige Sekundärrechtsakte für das Gericht erarbeitet.
Nun können wir heute hier am Sitz des Berufungsgerichts in Luxemburg den Start dieser neuen Gerichtsbarkeit gemeinsam feiern.
Wir feiern ein zeitgemäßes grenzüberschreitendes Instrumentarium zum Schutz für die innovative Industrie und zur besseren Durchsetzung ihrer Erfindungen.
Geschütztes geistiges Eigentum ist zentral für Wohlstand und Beschäftigung in Europa.
Und es ist eine der Grundvoraussetzungen für die globale Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz des Kontinents.
45 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts und knapp 30 Prozent aller Arbeitsplätze entfallen auf die schutzrechtsintensiven Wirtschaftszweige in der Europäischen Union. Bei den Exporten ist der Anteil noch deutlich höher.
Was wir hier schaffen: einen einheitlichen rechtlichen Schutz von Erfindungen für Unternehmen, die Ihre Produkte im gemeinsamen Markt vertreiben – das spart immense Kosten.
Attraktive Regeln für den Schutz geistigen Eigentums sind ein wesentlicher Beitrag für eine gute Zukunft dieses Kontinents!
Wenig Anderes ist von so großer geopolitischer Bedeutung in unserer Zeit wie Innovation.
Technologische Innovation bedeutet Gestaltungsmacht in globalem Maßstab.
Schlüsseltechnologien sind zentrales Instrument für globalen Einfluss.
Europa muss ein Kontinent der Innovation sein.
Das Einheitliche Patentgericht ist dafür ein neuer und innovativer Mosaikstein.
Dieser Schritt kommt keinesfalls zu früh. Auf der Welt ist ein neuer Wettlauf der Innovation entbrannt. Innovationskraft ist die Ressource, nach der sich noch stärker Lebenschancen auf der Welt verteilen werden.
Wir haben in Europa gelernt, dass Innovation besonders gut in einem Klima der Freiheit und des Wettbewerbs gedeihen. Das setzt voraus, dass ich die Früchte der Arbeit des anderen respektiere. Das gilt für physische wie geistige Arbeit. Daher muss geistiges Eigentum geschützt sein.
Wir haben dafür heute ein System vor uns, das mehrere Rechtsebenen zu einem großen Ganzen integriert.
Ein Rechtsakt der Europäischen Union regelt den Schutztitel des Europäischen Patents mit Einheitlicher Wirkung. Er knüpft an die Erteilung des Patents durch das Europäische Patentamt nach dem bestehenden Europäischen Patentübereinkommen an – ein völkerrechtliches Abkommen. Und für die Errichtung des Einheitlichen Patentgericht ist mit dem Übereinkommen ein weiterer völkerrechtlicher Vertrag geschlossen worden, der ein originäres Europäisches Gericht vorsieht: mit Eingangskammern in den teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten und mit einem gemeinsamen Berufungsgericht in Luxemburg, das in der Sache entscheidet.
Wichtig: Das Ganze fügt sich harmonisch in die Unionsrechtsordnung ein. Das Einheitliche Patentgericht wendet das Unionsrecht in vollem Umfang an. Sein Vorrang ist gewahrt.
Und der Gerichtshof der Europäischen Union ist zur autoritativen Auslegung des Unionsrechts berufen. Ihm ist das Einheitliche Patentgericht zur Vorlage berechtigt und im Falle des Berufungsgerichts auch verpflichtet.
Meine Damen und Herren,
das Einheitliche Patentgericht ist ein herausragendes Beispiel für regelbasierte internationale Zusammenarbeit.
Europa ist weltweit der Raum, der solche Zusammenarbeit erstrebt, erprobt und lebt.
Dieses europäische Regelwerk bedeutet mehr als die bloße Summe seiner einzelnen Elemente.
Es begründet eine gemeinsame Werteordnung, die uns zusammen wachsen und zusammenwachsen lässt;
eine Ordnung, die Frieden, Freiheit und gemeinsamen Wohlstand sichert.
Frieden, Freiheit und gemeinsamer Wohlstand: Es wird diese drei nur gemeinsam geben.
Ich wünsche dem neuen Gericht einen glücklichen Start!