Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich freue mich, hier heute bei Ihnen zu sein: an der größten Universität eines großen europäischen Landes. Eines Landes, das eben nicht nur groß an Fläche und Einwohnern ist, sondern das Größe dadurch bewiesen hat, dass es über Jahrhunderte immer neu für seine innere und äußere Freiheit kämpfen musste und gekämpft hat.
Dieses Land hat seine Freiheit immer neu verteidigt, sie verloren und wiedererrungen. Sie taten dies immer wieder gerade auch von dieser Hochschule aus, über die zwei Jahrhunderte ihres Bestehens, im Kampf gegen immer neue Fremdbestimmung. Deshalb bin ich dankbar, heute hier vor Ihnen sprechen zu dürfen.
Auch Bildung und Wissenschaft, polnische Identität und polnische Sprache haben Sie hier immer wieder verteidigen müssen gegen autoritären und totalitären Zugriff von Fremdherrschern und Besatzern – in „Flying Universities“, wie ich gelernt habe, versteckt und im Untergrund. In der Vorbereitung auf diesen Besuch in Ihrem Land und bei Ihnen hier ist mir deshalb noch einmal ganz deutlich geworden: In Polen über Freiheit zu reden, das heißt nun wirklich, Eulen nach Athen zu tragen. Aber ich werde sie tragen, mit großer Demut.
Meine Damen und Herren, ein großartiges Motto zieht sich prominent durch die Geschichte Ihres Landes: „Für unsere und Eure Freiheit!“ „For our freedom and yours!“ Früh kam ja gerade uns Deutschen dieses polnische Freiheits-Ethos zu Hilfe. In den Jahrzehnten vor der Revolution von 1848 unterstützten Polen, zu vielen Tausenden geflohen aus ihrem aufgeteilten Land, das deutsche Streben nach Einheit, Freiheit und Demokratie. Viele Polen nahmen 1832 an der berühmten Kundgebung in Hambach teil. Das sogenannte Hambacher Fest war der Höhepunkt der bürgerlichen Opposition in dieser vorrevolutionären Zeit.
In Hambach wehte direkt neben der schwarz-rot-goldenen auch die weiß-rote Fahne. Die Deutschen waren begeistert vom Freiheitsgeist der polnischen Aufständischen gegen den russischen Zaren. In deutschen Städten begrüßten wahre Menschen-Massen die Ankommenden. Das Wort von der „Polenschwärmerei“ der Deutschen kam auf. Man gründete sogenannte Polenvereine, um den Flüchtenden in jeder Weise zu helfen. Unzählige deutsche „Polenlieder“ entstanden, die den polnischen Kampf für die Freiheit besangen.
Im Jahrhundert der Revolutionen haben Polen überall in Europa für die Freiheit gekämpft – übrigens auch schon im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Polen sind mit den europäischen Freiheitsbewegungen seit zwei Jahrhunderten eng verwoben.
Polen wussten immer: Freiheit ist unteilbar. Ihr Land konnte geteilt sein – die Freiheit in Europa sollte es nicht. Polen war und ist der Anwalt der Selbstbestimmung, wo immer sie fehlt.
Polens Geschichte ist eine Lehrerin der Freiheit. Ich denke, es ist uns Deutschen noch immer nicht ausreichend bewusst: Polen haben die Deutschen auch vom Nationalsozialismus mit befreit. Als Stalin nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion polnische Soldaten frei ließ, da schlossen sich viele später den Briten an. Sie stellten bei der Landung der westlichen Alliierten in der Normandie 1944 das viertgrößte Truppenkontingent.
„For our freedom and yours!“ Diese Worte sagen die Wahrheit über die Bedeutung der Geschichte Polens für Europa und das Prinzip der liberalen Demokratie. Und das war nicht das letzte Mal, dass der Freiheitsdrang der Polen meinem Land half. In den 80er Jahren trieb gerade die Studentenbewegung an dieser Universität den politischen Wandel in Polen voran. Dazu hat die Gründung der Solidarnosc die Opposition in der DDR beflügelt. Viele Menschen in beiden Teilen meines Landes empfanden große Sympathie für diesen neuen politischen Frühling und drückten sie auch aus.
Für die DDR war das eine Gefahr. Deren Staatsführung schloss die Grenzen für DDR-Bürger. Man hoffte, das polnische Streben nach Freiheit und Demokratie aussperren zu können. Aber das gelang nicht – wie es nie gelingt. Der Sieg der Solidarnosc im Juni 1989 bei den ersten freien Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg war eine leuchtende Ermutigung für die Bürgerbewegung in der DDR. Der Weg zur Einheit meines Landes ist ohne die polnische Freiheitsbewegung nicht zu denken. Wir werden Ihnen das nie vergessen.
„For our freedom and yours!“ Das gilt für Ihr Land bis in die Gegenwart des verbrecherischen Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine. Im Geiste dieser Worte haben sich schon im März 2022, wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls, Ihr damaliger Regierungs- und Vize-Regierungschef mit ihren tschechischen und slowenischen Kollegen im Zug auf den gefährlichen Weg nach Kiew gemacht. Und seither ist die Solidarität Polens mit der Ukraine ungebrochen. Ihr Land ist auch hier ein Vorbild an Klarheit und Entschlossenheit an der Seite der Freiheit. Sie sind eine Inspiration. Auch dafür will ich den Polen im Namen der deutschen Bundesregierung danken.
Und ich will Ihnen zusichern: Unsere Bündnis-Solidarität mit Polen und mit der Ukraine als Frontstaaten gegen diese größte gegenwärtige Bedrohung der Freiheit ist unverbrüchlich. Wir wollen den russischen Angriff auf Freiheit, Recht und Demokratie gemeinsam abwehren. Polen weiß, worum es in der Ukraine geht. So wie Putin die ukrainische Freiheit direkt an der russischen Grenze nicht hinnehmen will – genauso wollte 1792 Katharina II. den Einfluss der Französischen Revolution, die „französische Pest“, wie es hieß, in Polen nicht hinnehmen.
Europa kann von Polen lernen: was die Freiheit ist und warum es sich lohnt, für sie zu kämpfen. Polens Liebe zur Freiheit ist eine Inspiration für Europa. Während wir Deutschen den Polen so viel zu verdanken haben, ist andersherum die bittere historische Wahrheit: Ein Hauptfeind der polnischen Freiheit war allzu oft mein Land – mit schrecklichsten Folgen. Ein Mitglied der deutschen Bundesregierung hat auch deshalb in Polen Demut zu üben. Zumal in Warschau will ich das sagen.
Ein Mitglied der deutschen Bundesregierung wird deshalb auch über „Liberty and Law in Europe“ nicht so reden, als seien wir Deutschen deren Erfinder oder Hüter oder Lehrer. Sie könnten das mit deutlich mehr Recht über sich sagen. Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 war die erste moderne Verfassung Europas, genau vier Monate vor der ersten französischen Verfassung. Diese Verfassung vom 3. Mai war Rousseaus Gedanken der Volkssouveränität und Montesquieus genialem und zeitlosem Konzept der Gewaltenteilung verpflichtet. Hugo Kołłątaj, einer der großen Aufklärer Europas, war einer ihrer Hauptautoren. Sechs Jahrzehnte später, 1848, versuchten die Deutschen mit der Paulskirchenverfassung Ähnliches – aber scheiterten.
Polen gehört mit Frankreich an den Beginn der europäischen Verfassungsgeschichte von Recht und Freiheit. Diese Verfassungsgeschichte Europas hat bekanntlich keine grade Linie; und zu keiner Zeit war sie ohne Rückschläge. Bis heute tun wir in Europa gut daran, in unseren eigenen Ländern wachsam zu sein – jeder in seinem.
Liberty and Law sind in Europa in jedem Land immer neu zu verteidigen und zu sichern. Jedes Land kennt heute die Gefährdungen, die der liberalen Ordnung von innen drohen. Jedes Land hat Versuchungen zu widerstehen, sich die manchmal unbequeme Teilung und gegenseitige Kontrolle der Gewalten irgendwie bequemer zu machen.
Die Gefahr ist immer wieder da: Demokratien können sich mit ihren eigenen Mitteln selbst abschaffen, wenn der Mehrheit keine Grenzen gesetzt sind. Seit den amerikanischen, polnischen und französischen Verfassungen des 18. Jahrhunderts enthalten freiheitliche Verfassungen deshalb Arrangements der checks and balances. Dazu gehört eine starke, unabhängige Justiz, die der Politik auch Einhalt gebieten kann, wenn sie Recht und Verfassung verletzt.
Jedes Land hat sich selbst immer wieder in Erinnerung zu rufen: Natürlich, in der Demokratie entscheidet die Mehrheit. Aber weil jeder einmal Minderheit sein kann, bedeutet auch in der Demokratie schrankenlose Macht Tyrannis – die Tyrannei der Mehrheit. Deshalb sind Demokratie und Freiheit – ist liberale Demokratie – nur denkbar, wenn es Grundrechte und eine unabhängige Justiz gibt, um Macht zu mäßigen.
Die Regeln des freiheitlichen Rechtsstaats sind Regeln, die dem Gerechtigkeitskriterium des großen US-amerikanischen Philosophen John Rawls in beispielhafter Weise genügen. Ich denke, so akademisch darf ich an einer Universität hier kurz werden. Aber es gehört absolut zur Sache. Die prüfende Frage von John Rawls war: Kann man einem Set von Regeln zustimmen, gerade ohne dass man weiß, wo man unter der Herrschaft dieser Regeln stehen wird? Für die Regeln der Machtausübung im Staat also: ob man auf der Seite der Minderheit oder auf der Seite der Mehrheit stehen wird; ob auf der Seite der Regierung oder auf der Seite der Opposition. Unter diesem berühmten „Schleier des Nichtwissens“ zeige sich die Gerechtigkeit und Fairness von Regeln.
Und, ja, nach diesem Kriterium sind die Regeln des Rechtsstaats fair und gerecht. Denn warum werden wir diesen Regeln und Begrenzungen von Macht zustimmen? Wir werden es tun, weil sie angesichts der immer möglichen Veränderung der Machtverhältnisse auch mich einmal, in der Minderheit, vor der Missachtung meiner Rechte durch die Mehrheit schützen können. Auch die demokratisch legitimierte Mehrheit darf nicht alles. Unabhängige Gerichte wachen darüber.
Recht und Rechtsstaat ermöglichen so die Herrschaft aller über den Wechsel der Zeiten hinweg – gerade indem sie die Herrschaft der jeweiligen Mehrheit begrenzen. Staatliche Gewalt in der Demokratie wird auf lange Sicht stabiler, wenn man sie teilt! Das Reden von Liberty and Law in Europe ist deshalb nie ein Reden gegen oder für jemanden. Es ist der Logik der Parteilichkeit gerade entgegengesetzt. Es geht um Fairness.
Ihr Ministerpräsident hat gerade ganz in diesem Geiste darauf hingewiesen, ich zitiere ihn: „Es ist ja nicht so, dass wir, weil wir die Wahlen gewonnen haben, in allem recht haben.“ Der Rechtsweg zur Überprüfung von Regierungsentscheidungen stehe allen offen. Das ist das Großartige am Rechtsstaat. Auch die Grundrechte – persönliche Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit – sind ihrem Wesen nach Minderheitenrechte. Und auch das heißt eben: Im freiheitlichen Rechtsstaat darf es gerade nicht die Mehrheit sein, die das letzte Wort über sie behält.
Und deshalb sind gerade Regierungsentscheidungen, die Grundrechte betreffen, jederzeit überprüfbar durch unabhängige Gerichte. Jeder kann diese Überprüfung verlangen. In liberalen Demokratien ist es möglich, Zuschnitt und Zusammenspiel von Verfassungsorganen auch zu verändern. Die Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger beschränkt sich nicht auf Marginales. Aber man tut gut daran, breite Mehrheiten dafür zu suchen – und auch die Opposition zu überzeugen. Denn besser ist es, dass die Verfassung beständig das notwendig wechselhafte demokratische Leben prägt – als dass das wechselhafte demokratische Leben alle paar Jahre die Verfassung prägt!
Niemandem wird es ohne einen breiten Konsens gelingen, den Rechtsstaat dauerhaft und verlässlich nach den eigenen Wünschen umzubauen. Wechselnde Mehrheiten und die Überprüfung von Gesetzen durch unabhängige Gerichte stehen in der liberalen Demokratie solchen Versuchen auf längere Sicht entgegen. Nur muss die Justiz, um diese Sicherungsfunktion zu erfüllen, tatsächlich unabhängig sein.
Allerdings, und das führt mich zum letzten Gedanken, ist auch mit diesem institutionellen Arrangement des liberalen Rechtsstaats der politische Streit nie völlig aufzulösen. Das ist erstens auch nicht der Sinn des Rechtsstaats. Er soll den Streit nur in produktiven Bahnen halten. Aber der Streit ist im Rechtsstaat auch deshalb nie stillgestellt, weil auch die Entscheidungsgründe unabhängiger Gerichte nie unumstritten sein werden. So hat etwa jede liberale Demokratie ihre eigene Debatte um die Prinzipien höchstrichterlicher Verfassungsauslegung.
Sagen Verfassungen, zum Beispiel, nur das aus, was ihre Autoren bei ihrem Entwurf vor Augen hatten? Oder soll man den Text nach Wertungen zu einer veränderten Lebenswelt und einer gewandelten Gesellschaft befragen? Auch die Reichweite der Prüfungskompetenz der Verfassungsgerichte kann ganz verschieden weit definiert sein. Das deutsche Bundesverfassungsgericht etwa betont, eher zurückhaltend, dass es weite Ermessenspielräume des Parlaments zur Konkretisierung der Verfassung durch Gesetze gebe.
Was ich damit sagen will, ist: Der freiheitliche Rechtsstaat braucht die grundsätzliche Bereitschaft aller Beteiligten zur konstruktiven Wahrnehmung ihrer Rollen und Aufgaben in einer allermeist höchst uneindeutigen Gesamtsituation. Der freiheitliche Rechtsstaat verlangt von allen Beteiligten ein Minimum an Selbstdisziplin, fairer Streitkultur und Bereitschaft zur Deeskalation.
Der Rechtsstaat ist kein Erfüllungsgehilfe für Rechthaberei – sondern das beste uns bekannte Mittel, das friedliche Zusammenleben der Verschiedenen und Freien über die Zeit wahrscheinlicher zu machen. Das Recht ist kein Selbstzweck; es dient der Stabilität und Stärke der liberalen Demokratie. Das ist der Segen der Rechtsstaatlichkeit.
Und insofern mag es Momente geben, an denen alle Verantwortlichen diesen Segen wieder neu über den Staat bringen müssen: im Einvernehmen und für alle Bürgerinnen und Bürger sichtbar konstruktiv. Denn innerer Frieden und Freiheit sind das Ziel. Das Recht ist das Mittel.
Meine Damen und Herren, Recht und Freiheit, Volkssouveränität und Gewaltenteilung sind ein gemeinsames europäisches Erbe – zu dem Polen seit Jahrhunderten Großes beigetragen hat. Recht und Freiheit sind ein gemeinsamer europäischer Auftrag – dem heute jedes europäische Land in seinen eigenen inneren Auseinandersetzungen gerecht werden muss. Europa hat sich das Ziel gesetzt, ein Kontinent der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu sein. Das sind keine Worthülsen für Sonntagsreden, sondern Werte, für die es sich lohnt, hart zu arbeiten.
Arbeiten wir gemeinsam für eine europäische Zukunft friedlich miteinander verbundener Staaten, die Recht und Freiheit in ihrem Innern und werbend in die Welt hinein wahren und weiterentwickeln! Europa kann stolz sein, Polen in seiner Mitte zu haben! Der Geist Polens ist der Geist Europas.
Ich bin dankbar, mit den Polen gemeinsam Europäer zu sein!
Vielen Dank!