Herzlich willkommen im Bundesministerium der Justiz.
Sie nehmen heute an einer Veranstaltung teil, die auch für dieses Haus, das schon viele Veranstaltungen gesehen hat, etwas ganz Neues und Ungewöhnliches ist; und allein deshalb ist sie schon mal gut.
Uns erwartet nämlich ein Stück Dokumentartheater.
Es treten gleich Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Schauspielschülerinnen und Schauspielschüler der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF auf – und die möchte ich hier herzlich begrüßen und mich auch herzlich bei ihnen bedanken, dass sie das heute Abend möglich machen.
Sie werden den Hitler-Ludendorff-Prozess von 1924 nachspielen – auszugsweise natürlich nur, denn der Prozess lief über viele Monate. Die Texte, die Sie dabei hören werden, stammen ausschließlich aus den Protokollen der Prozessakten.
Anschließend werden vier Fachleute über eben diesen Prozess diskutieren und über die Rolle der Justiz im demokratischen Rechtsstaat.
Meine Damen und Herren, vielleicht geht es Ihnen ja wie mir: Natürlich weiß man von dem Prozess und auch von dem Putsch, der zu diesem Prozess führte, aber es ist doch hilfreich, sich ein paar Daten genauer in Erinnerung zu rufen.
Hitler hatte am Abend des 8. November 1923 in München einen Putschversuch begonnen. Ziel war es, von Bayern aus die Reichsregierung in Berlin zu stürzen. Bereits im Laufe der Nacht wurde klar, dass der Putsch scheitern würde: Weder die Staatspolizei noch die Reichswehr waren bereit, die Putschisten zu unterstützen. Dennoch brachen Hitler, Ludendorff und ca. 2000 ihrer Gefolgsleute gegen Mittag des 9. November zu einem Protestmarsch durch München auf.
Sie hofften auf einen Begeisterungssturm der Bevölkerung, der sie bis nach Berlin tragen sollte. Der Begeisterungssturm blieb aus. Vor der Feldherrnhalle wartete ein Polizeikordon. Es kam zu einem Schusswechsel. Vier Polizisten und 14 Putschisten starben.
Der anschließende Prozess wegen Hochverrats fand vom 26. Februar bis zum 1. April 1924 in München statt. Die Urteile ergingen am 1. April. Ludendorff wurde freigesprochen, worüber er sich heftig beschwerte. Hitler und drei weitere Angeklagte wurden zu Festungshaft von nur fünf Jahren verurteilt. Eine Bewährung wurde ihnen in Aussicht gestellt nach sechs Monaten verbüßter Strafe. Hinzu kam eine Geldstrafe von 200 Goldmark. Der Prozess rief in weiten Kreisen, und zwar auch durchaus rechtskonservativen, Empörung hervor.
Diese Empörung hatte auch ihren guten Grund. Denn das Thema Justiz ohne Judiz betraf nicht nur die Ergebnisse.
Schon die Tatsache, dass der Prozess in München stattfand, war ein rechtliches Problem. Denn das Reichsgericht in Leipzig wäre eigentlich zuständig gewesen. Doch die bayerische Landesregierung hatte enge Verbindung zu den Putschisten gepflegt. Der bayerische Justizminister Gürtner, später Reichjustizminister in Hitlers Kabinett, hatte kein Interesse daran, dass diese Verbindung in einem Gerichtsprozess außerhalb Bayerns beleuchtet wurde. Man wollte die Sache im eigenen Sprengel unter Kontrolle halten. Gegenüber der Reichsregierung konnte er sich schließlich durchsetzen, so dass der Prozess am Volksgerichtshof in München stattfand.
Das zweite Ärgernis aus der Sicht vieler Beobachter waren die überaus milden Strafen. Hitler hätte gar keine Bewährung nach sechs Monaten erhalten dürfen, da er noch eine Bewährungsstrafe verbüßte aus einer Verurteilung aus dem Jahr 1922. Nach dem Republikschutzgesetz hätte der Österreicher Hitler außerdem ausgewiesen werden müssen.
Und die Festungshaft, ein Begriff der heutigen Juristen nicht mehr so geläufig ist, war eigentlich eine Art Ehrenbezeichnung. Es war ein Privileg in Festungshaft zu kommen und mit vielen Annehmlichkeiten verbunden.
Der Vorsitzende Richter, Georg Neidhardt, sympathisierte erkennbar mit den Putschisten. Er ließ sie im Gerichtsaal so frei gewähren, dass ein Journalist von einem „politischen Karneval“ sprach. Hitler wurden Redezeiten von bis zu vier Stunden zugestanden. Ihm waren ausführliche Zeugenbefragungen erlaubt, in die er politische Suaden einflocht, ohne dafür zur Ordnung gerufen zu werden.
Hitler erhielt durch den Prozess eine Bühne, und er nutzte sie. Der Prozess erlaubte ihm nicht nur, sein Weltbild zu verbreiten. Er machte ihn innerhalb der völkischen Bewegung zu der bestimmenden Figur. Man begann, ihm religiöse Verehrung entgegenzubringen. Und wohin das führte, das wissen wir.
Hätte man ihm diese Bühne verweigern sollen? Hätte man, wie es der Staatsanwalt Ludwig Stenglein beantragte, die Öffentlichkeit vom Prozess ausschließen sollen?
Mit dem Wissen von heute würden wir vermutlich spontan alle sagen: Ja, selbstverständlich. Jedes Mittel, Hitlers Aufstieg zu verhindern, wäre gerechtfertigt gewesen. Aber den benefit of hindsight, das Privileg der ex-post-Perspektive, hatte die damalige Gegenwart nicht.
Können wir also wenigstens den damaligen Prozess zum mahnenden Vorbild nehmen und sagen: Keine Bühne für Extremisten, Prozesse gegen sie dürfen nicht öffentlich sein?
Ich habe da meine Zweifel.
Denn zu einem Gerichtsprozess gehört die Öffentlichkeit. Das ist inhärenter Teil der europäischen Rechtstradition. Die Griechen sprachen Recht auf den Agorai, die Römer auf dem Marsfeld, und im Alten Testament finden Prozesse üblicherweise vor einem Tor statt, an einem Ort, wo Menschen ein- und ausgehen, also in der Öffentlichkeit, damit
eben die Öffentlichkeit sehen kann: Was wird einem Menschen vorgeworfen? Welche Rechtssätze wenden diejenigen an, die dort Recht sprechen, und wie kommt es eigentlich zu einer Verurteilung oder einem Freispruch. Es ist ein Vertrauensbaustein im Konstrukt des Rechtsstaats, dass wir nicht hinter verschlossenen Türen im Geheimen Recht sprechen.
Diese Öffentlichkeit ist deshalb wichtig, sie ist meiner Meinung nach für einen Rechtsstaat unabdingbar. Der Rechtsstaat muss transparent sein und erkennbar machen, wie er zu seinen Lösungen kommt. Und das gilt erst recht, wenn es um das Strafen geht, was immer die Ultima Ratio darstellt.
Auch müssen wir akzeptieren, dass jeder Angeklagte das Recht hat, sich so gut zu verteidigen, wie er kann. Er braucht eine Bühne, er braucht auch das Recht, einen effektiven, vielleicht für manche auch schwer erträglichen Vortrag zu halten.
Ein Mensch, der als unschuldig gilt, bis seine Schuld durch das Gericht erwiesen und ausgesprochen ist, muss eben das Recht haben, wenn er um seinen guten Namen und seine Freiheit kämpft, alle Mittel der Verteidigung zu gebrauchen, vielleicht auch einen effektiven, vielleicht auch einen manchmal theatralischen Vortrag zu halten. In jedem Fall muss ein überzeugender Vortrag zu seinen Verteidigungsmitteln gehören.
Natürlich kann eine solche Bühne immer auch missbraucht werden. Etwa, indem nicht zur Sache gesprochen wird, indem Falschheiten und Lügen verbreitet werden. Dafür brauchen wir eine Prozessleitung, die objektiv und in der Lage ist, den zulässigen effektiven Vortrag von der Abschweifung, vom Missbrauch und von der offenkundigen Lüge zu unterscheiden.
Das brauch eine starke Sitzungsleitung. Im Hitler-Ludendorff-Prozess hatten wir die nicht, einen entsprechenden Richter gab es dort nicht. Ohne zu übertreiben darf man wohl sagen: In der ganzen Weimarer Republik waren solche Richter Mangelware.
Die Situation ist heute glücklicherweise eine andere. Wir haben keine Richterschaft, die der demokratischen Rechtsordnung feindlich gegenübersteht. Ich glaube, daran lassen gerade die Prozesse der letzten Jahre gegen die Feinde dieses Rechtsstaates keinen Zweifel.
Aber wir sehen natürlich auch, dass unser Rechtsstaat immer häufiger angegriffen wird. Damit Richterinnen und Richter für solche Angriffe früh sensibilisiert werden, haben wir 2022 mit der Änderung des § 5a Deutsches Richtergesetz dem juristischen Studium einen wichtigen Punkt hinzugefügt.
In Absatz 2 Satz 3 heißt es dort nun: „die Vermittlung der Pflichtfächer erfolgt auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur.“ Das ist deshalb wichtig, weil das Unrecht sich nicht immer offen als Unrecht zu erkennen gibt. Der kürzlich verstorbene Bernd Rüthers hat ja sein wissenschaftliches Leben dem Umstand gewidmet, dass das nationalsozialistische Unrecht sich häufig im Wege der Auslegung selber den Anschein von Recht geben wollte und dass die unbegrenzte Auslegung, das war ja das Thema seiner Habilitationsschrift, eine genauso große Gefahr für den Rechtsstaat ist wie diejenigen, die ihm offen entgegentreten. Deshalb ist es wichtig, dass anhand lebendiger Beispiele gezeigt wird, wie durch überzogene, unbegrenzte Auslegung sich Recht in Unrecht verwandeln kann.
Vor Gericht dürfen keine Propagandaveranstaltungen stattfinden. Klar bleibt aber auch: Die offene Gesellschaft stellt sich ihren Feinden nicht in geschlossenen Räumen. Sie streitet und kämpft im Offenen.
Daraus zieht sie ihre Legitimation, daraus zieht sie ihre Stärke.
Im Hitler-Ludendorff-Prozess urteilten auch Laienrichter. Ihrer Sympathie hat sich Hitler später gerühmt. Ein solches Szenario wollen wir verhindern.
Deshalb müssen auch ehrenamtliche Richterinnen und Richter die Gewähr dafür bieten, jederzeit für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Im letzten Herbst haben wir daher einen Gesetzentwurf im Kabinett beschlossen, der die Pflicht zur Verfassungstreue auch für ehrenamtliche Richterinnen und Richter ausdrücklich klarstellt.
Meine Damen und Herren, die Weimarer Republik hat uns gezeigt, wie eine Demokratie scheitern kann. Die Folgen waren für Deutschland und die Welt katastrophal. Demokratie kann scheitern, sie darf es aber nicht. Das ist der Auftrag für alle, die in unserem Gemeinwesen Verantwortung tragen – auch in der Justiz. Dafür wollen wir mit der heutigen Veranstaltung sensibilisieren, für deren Zustandekommen ich allen Beteiligten danken möchte.